Der Österreich-Anschluß 1938

Die Wiedervereinigung Deutschlands und Österreichs 1938, genannt „der Anschluß“, hat eine sehr lange Vorgeschichte. Die staatliche Gemeinsamkeit der deutschen Länder einschließlich derer, die später den Staat Österreich bilden, beginnt im Jahr 911 mit der Wahl Konrad I. zum König des Ostfrankenreiches, für das sich bald der Name “Reich der Deutschen” und später “Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation” durchsetzt. Im Jahr 1273 geht die Krone dieses Reiches erstmals an einen Fürsten aus dem Hause Habsburg über, ehe sie dann ab 1438 in ununterbrochener Herrscherfolge bis 1806 dort verbleibt. So sind die Landesteile des Hauses Habsburg fast ein Jahrtausend lang ein integraler Teil des Deutschen Reichs, und die Fürsten Habsburgs während der letzten 368 Jahre zugleich die Könige und Kaiser Deutschlands. Auch nach Auflösung des ersten deutschen Reichs im Jahre 1806, als 1815 der Deutsche Bund gegründet wird, steht diesem bis 1866 wieder der Chef des Hauses Habsburg, vor.

Es folgt ein halbes Jahrhundert der österreichisch-deutschen Trennung. Als 1918 das geschlagene Österreich und das geschlagene Deutschland Republiken gründen, beschließen die ersten Parlamente in Berlin und Wien, ihren Staaten neue Verfassungen zu geben. In beide Verfassungen schreiben die Abgeordneten ein Wiedervereinigungsgebot. In der österreichischen heißt es:

„Deutsch-Österreich ist eine demokratische Republik. … Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik.“

In der ersten deutschen Verfassung steht ein vergleichbarer Satz. Am 6. September 1919, verkündet der österreichische Staatskanzler Dr. Renner noch einmal in der Wiener Nationalversammlung:

“Deutsch-Österreich wird niemals darauf verzichten, die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich als das Ziel seiner friedlichen Politik zu betrachten.”

Beide Wiedervereinigungsgebote, sowohl das österreichische als auch das deutsche, müssen bald darauf auf Druck der Siegermächte aus den zwei Verfassungen entfernt werden. Doch der Wunsch nach einer Vereinigung Österreichs und Deutschlands ist damit nicht erloschen.

Die Zeit der deutsch-österreichischen Trennung von 1866 bis 1918 hat Ähnlichkeit mit der deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die 54 Jahre der deutsch-deutschen Trennung seit 1866 haben das Empfinden, zum selben Volke zu gehören, in Deutschland und in Österreich genausowenig sterben lassen, wie die 45 Jahre deutscher Teilung bei den Deutschen in West- und Mitteldeutschland nach 1945.

1931 wagen Österreich und Deutschland noch einmal einen Annäherungsversuch, die deutsch-österreichische Zollunion. Auch diese scheitert wieder am Protest der Sieger. Aus der Sicht der Sieger hat das Verbot der deutsch-österreichischen Vereinigung zunächst durchaus einen Sinn. Mit einem angeschlossenen Österreich hätte das besiegte Deutschland seine Verluste an Land und Menschen wieder ausgeglichen. Doch dieses Rechenspiel der Sieger mißachtet ihre selbst aufgestellte Regel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Das Nachkriegsösterreich

Die 20er Jahre sind für Österreich arm und bitter. Das wirtschaftliche Netzwerk Habsburgs ist zerschlagen. Die Zahl der Arbeitslosen klettert auf 557.000. Die Auslandsschulden Österreichs sind bald nicht mehr abzutragen. Die Hoffnung auf spätere Vereinigung mit Deutschland bleibt in Österreich ungebrochen, und alle politischen Parteien – außer Monarchisten und Marxisten – sind sich darin einig und äußern dies auch immer wieder. So erinnert der Führer der Sozialdemokraten Dr. Renner 1928 in einer öffentlichen Rede:

„Heute, zehn Jahre nach dem 10. November 1918, und immerdar halten wir in Treue an diesem Beschluß fest und bekräftigen ihn durch unsere Unterschrift. … Der Friede von Saint-Germain hat das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Österreich vernichtet. … Laßt Österreichs Bürger frei abstimmen und sie werden mit 99 von 100 Stimmen die Wiedervereinigung mit Deutschland beschließen.“

Die 30er Jahre sind in Österreich politisch ähnlich turbulent wie die im Deutschen Reich. Eine Parlamentskrise im März 1933, in der es zunächst nur um einen Eisenbahnerstreik gegangen ist, endet damit, daß der österreichische Bundeskanzler Dollfuß den Nationalrat auflöst und fortan gestützt auf eine so genannte Vaterländische Front als Diktator allein regiert. Er verbietet erst die Kommunistische, dann die Nationalsozialistische Partei in Österreich, dann die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften. Politische Gegner werden in „Anhaltelagern“ inhaftiert, die den Konzentrationslagern entsprechen, die im gleichen Jahre in Deutschland eingerichtet werden. Dollfuß, der als Diktator schon im eigenen Lande keine Lust hat, seine Macht und Herrschaft mit neuen Wahlen zu riskieren, will beides erst recht nicht bei einem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich verlieren. So endet Österreichs Anschluß-Politik mit Dollfuß und dem Ende der Demokratie im Nachkriegs-Österreich. Die Ära des Bundeskanzlers Dollfuß endet im Juli 1934 mit seiner Ermordung durch österreichische Nationalsozialisten. Dem Diktator folgt Bundeskanzler Schuschnigg, der den Regierungsstil seines Vorgängers mit aufgelöstem Parlament, mit Parteienverboten und KZ´s fortsetzt. Auch er versucht, eine Vereinigung Österreichs mit Deutschland zu verhindern.

Im Sommer 1936 kommt es unter dem sanften Druck Italiens zu einem Wiederannäherungs-versuch der beiden deutschsprachigen Staaten. Im Juli 36 wird ein Deutsch-Österreichisches Abkommen über die Normalisierung und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten geschlossen. Deutschland erkennt darin die “volle Souveränität des Bundes-staates Österreich” an, und Österreich bekennt sich ausdrücklich dazu, ein „deutscher Staat“ zu sein. Zusätzlich sichert Schuschnigg schriftlich zu, „Vertreter der bisherigen sogenannten Nationalen Opposition in Österreich” zur Mitwirkung an der politischen Verantwortung heranzuziehen. Trotz des geschlossenen Abkommens läßt der Druck der Diktatur im Donau-Staat nicht nach. Zudem läßt ein Wirtschaftsaufschwung wie der in Deutschland auf sich warten. Besonders viele Menschen aus der Arbeitnehmerschaft sehen im Anschluß eine wirtschaftliche Hoffnung. So wird der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich für die Bürger Österreichs wieder zur attraktiven Perspektive. Hinzu kommt, daß sich die Diktatur in Österreich kaum von der in Deutschland unterscheidet, so daß letztere kein Grund ist, einen Anschluß abzulehnen. Im gleichen Zeitraum schließen sich die Saarländer mit 90,8% Pro-Deutschland-Stimmen an das Deutsche Reich an. Bundeskanzler Schuschnigg, der den Drang weiter Bevölkerungskreise zu einem Anschluß kennt, bittet um einen Staatsbesuch bei Hitler.

Am 12. Februar 1938 kommt der Besuch zustande. Hitlers Wunschvorstellung ist sicherlich gewesen, daß ein frei gewählter Nationalrat und eine österreichische Regierung kraft des Selbstbestimmungsrechts der Völker von sich aus den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich verkünden, den Anschluß den die Verfassungsväter Österreichs schon vor zwei Jahrzehnten fest beschlossen hatten. Doch Hitler ist inzwischen klar, daß mit der Diktatur des christ-sozialen Schuschnigg, ohne Parlament und ohne Wahlen kein legaler Weg für einen Anschluß offensteht.

Das Gespräch der zwei Diktatoren Schuschnigg und Hitler ist ein einziger Streit gewesen. Hitler hält Schuschnigg vieles vor, das Vorgehen der Polizei in Österreich gegen die Nationalsozialistische Partei, Grenzbefestigungen gegen Deutschland und anderes mehr. Hitler legt Schuschnigg eine „Liste mit deutschen Vorschlägen für eine endgültige Regelung der österreichischen Frage” vor. Die wesentlichen Forderungen lauten:

  • politische Betätigungsfreiheit der österreichischen Nationalsozialistischen Partei zur legalen Betätigung im Rahmen der „Vaterländischen Front”,
  • Amnestie für alle wegen nationalsozialistischer politischer Betätigung inhaftierten Österreicher,
  • Wiederherstellung der Pressefreiheit,
  • Vorbereitung der Angleichung der Wirtschaftssysteme beider Länder.

Dafür sichert die Deutschen Reichsregierung zu, daß sich reichsdeutsche Parteidienststellen

nicht in innerösterreichische Verhältnisse einmischen. Die „Vorschläge” enden mit einem Ultimatum, nach dem sich Bundeskanzler Schuschnigg schließlich widerstrebend bereiterklärt, die vereinbarten Maßnahmen bis zum 18. Februar 1938 durchzuführen.

Dr. Schuschniggs “Volksabstimmung”

Nun tritt der Bundeskanzler Schuschnigg die Flucht nach vorne an. Er setzt am 9. März, ganz überraschend eine Volksabstimmung zur Anschlußfrage für den nächsten Sonntag an, das ist vier Tage später. Die kurzgesteckte Frist und manches andere zeigen, daß der Bundeskanzler hier in Panik handelt. Er unterlässt, wie in der Verfassung vorgeschrieben, das Kabinett zu seiner Absicht einer Volksabstimmung zu befragen. Da es seit 1929 auf Bundesebene und seit 1932 auf Landesebene keine Wahlen mehr gegeben hat, gibt es in Österreich keine aktuellen Wählerlisten mehr. Zudem hat Schuschnigg angeordnet, daß die Stimmauszählung allein von der „Vaterländischen Front” vorzunehmen sind, also vom Regierungslager. Des weiteren begrenzt Schuschnigg das Wahlalter nach unten auf 25 Jahre. Er befürchtet, daß besonders junge Wähler zu einem Anschluß an das Deutsche Reich tendieren. Es wird außerdem angeordnet, daß die Angehörigen des Öffentlichen Dienstes am Tage vor der Wahl in ihren Abteilungen geschlossen unter Aufsicht zur Wahl zu gehen haben und ihre ausgefüllten Wahlzettel ihren Vorgesetzten offen zu übergeben haben. Und als letztes verfügt Dr. Schuschnigg, daß in den Wahllokalen nur Stimmzettel mit dem Aufdruck “JA” ausgegeben werden, was ein Ja zur Unabhängigkeit bedeutet. Ansonsten verhandelt Kanzler Schuschnigg in aller Eile mit den Führern der bisher verbotenen Parteien und der aufgelösten Gewerkschaften, um sie für Wahlaufrufe gegen einen Anschluß zu gewinnen. Als Preis verlangen die so plötzlich angesprochenen Führer, daß ihre Parteien unverzüglich wieder zugelassen werden, und sie fordern, daß ihre zu Tausenden in den Konzentrationslagern inhaftierten Parteimitglieder endlich freigelassen werden.

Dr. Schuschniggs getürkte Volksabstimmung bleibt nicht ohne Widerspruch. Innenminister Seyß-Inquart und Minister Glaise-Horstenau, teilen ihrem Kanzler unverzüglich mit, daß die Wahl so verfassungswidrig ist, und sie verlangen die Verschiebung der Volksabstimmung,damit sie vorbereitet werden kann. Bundeskanzler Schuschnigg lehnt die Forderung ab. Seyß-Inquart und Glaise- Horstenau versuchen in den folgenden vier Tagen noch dreimal, Schuschnigg umzustimmen. Die letzte Forderung enthält fünf verfassungsgemäße Bedingungen und das Ultimatum, die Bedingungen „noch heute, bis spätestens 13 Uhr“ anzunehmen. Als Schuschnigg das erneut ablehnt, wendet sich Seyß-Inquart telefonisch direkt vom Kanzleramt in Wien an Minister Göring in Berlin und fragt um Rat.

Die Wiedervereinigung

In Deutschland hat man die Turbulenzen in Österreich seit dem 9. März verfolgt. Hitler wird unverzüglich von den Überrumpelungswahlen Schuschniggs informiert. Es ist nicht schwer, die Absicht hinter den Wahlauflagen zu durchschauen. Die Stimmauszählung nur durch eigene Leute riecht nach Fälschungsabsicht, und, die jungen Wähler auszuschließen, ist der offensichtliche Versuch, pro-deutsche Wähler von den Urnen fernzuhalten. Hitler sieht die Chance schwinden, daß sich Österreichs Bürger zu einem späteren Zeitpunkt in freien und korrekten Wahlen für den Anschluß an das Deutsche Reich entscheiden können, wenn zuvor nach einer manipulierten Volksbefragung das Gegenteil beschlossen worden ist. Hitler ist verärgert, hat aber zunächst noch kein Konzept, wie er reagieren soll. Die politischen Stränge zieht auf deutscher Seite nun vor allem der Minister Göring.

Am 11. März etwa 14.30 Uhr, erfolgt der schon erwähnte Anruf von Seyß-Inquart aus Wien bei Göring in Berlin. Der österreichische Innenminister teilt Minister Göring mit, daß Bundeskanzler Schuschnigg noch immer nicht gewillt ist, die Volksabstimmung zu verschieben. Göring informiert Hitler von der Neuigkeit aus Wien. Beide sehen, daß es so keine Chance mehr für eine faire Volksabstimmung in der Anschlußfrage gibt. Sie beschließen, nun direkt in das österreichische Geschehen einzugreifen und Schuschnigg durch Seyß-Inquart zu ersetzen. Göring übermittelt dem österreichischen Bundeskanzler Dr. Schuschnigg mit Hitlers Einverständnis die Forderung, die Volksabstimmung zu verschieben und Dr. Seyß-Inquart mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen. Schuschnick versucht nun, sich in einer Blitzaktion der Rückendeckung Mussolinis zu versichern. Doch der lehnt eine Unterstützung für ihn ab. Schuschnigg gibt anschließend „auf Raten“ nach. Er läßt Hitler übermitteln, daß er mit der Verschiebung der Volksabstimmung einverstanden ist. Doch Göring gibt sich allein mit einer Wahlverschiebung nun nicht mehr zufrieden. Er schickt ein nächstes Ultimatum und verlangt die sofortige Ernennung Dr. Seyß-Inquarts zum Bundeskanzler, andernfalls erfolge ein deutscher Einmarsch in Österreich. Nachdem Seyß-Inquart Kanzler Schuschnigg auch diese Botschaft übermittelt haben, gibt der auf und über Radio bekannt, daß er zurücktritt.

In den Morgenstunden des neuen Tages – es ist inzwischen Samstag, der 12. März 1938 – marschieren deutsche Truppen in Richtung Salzburg, Linz und Innsbruck. Blumenschmuck und Fahnen auf den Militärfahrzeugen sollen zeigen, daß dies eine Wiedervereinigung nach langen Jahren deutscher Trennung und kein Eroberungsfeldzug ist. Dies Zeichen wird auch so verstanden. Die österreichische Bevölkerung beiderseits der Straßen reagiert erst freundlich, dann bald mit steigender Begeisterung. Es gibt Umarmungen, Winken, Händeschütteln, Freudentränen, Fahnenschwenken. Als Hitlers Wagenkolonne gegen Abend auf den Marktplatz der Stadt Linz rollt, warten dort schon 60.000 Menschen zum Empfang. Hitler hält eine kurze Rede und wird dabei wieder und immer wieder von Beifallsstürmen unterbrochen. Die Begeisterung der Menschenmenge hinterläßt ihm, der sich bis dahin der ungeteilten Zustimmung der Österreicher nicht sicher sein konnte, einen tiefen Eindruck.

Bundeskanzler Seyß-Inquart, frisch vom österreichischen Bundespräsidenten vereidigt, und einige der neu ernannten Minister sind zur Begrüßung Hitlers nach Linz gekommen. Seyß-Inquart, der kein Freund des Einmarschs ist, schlägt Hitler vor, auch österreichische Truppen nach Deutschland zu entsenden, um aller Welt zu zeigen, daß sich hier eine freiwillige Vereinigung vollzieht und keine einseitige Eroberung. Hitler ordnet auf der Stelle an, so zu verfahren. Schon tags darauf marschieren österreichische Truppen nach München, Dresden, Stuttgart und Berlin. Sonntag morgen, den 13. März 1938 um 1 Uhr früh, rollt die erste Wehrmachtseinheit in Österreichs Hauptstadt Wien ein. Die Straßen sind trotz Nacht und Kälte voll von Menschen. Vor der Oper ist ein österreichisches Musikkorps angetreten und empfängt die ersten deutschen Truppen zu einer improvisierten Militärparade. Die Polizeiabsperrungen, die die Menschen von den vorbeimarschierenden Wehrmachts-kompanien trennen sollen, brechen unter dem Ansturm der begeisterten Menge bald zusammen. Der Militäreinmarsch vollzieht sich so, als wäre der politische Anschluß Österreichs schon vorausgegangen.

Doch noch sind Seyß-Inquart Bundeskanzler und Miklas Bundespräsident von Österreich. Gegen Abend erklärt Miklas seinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Damit gehen nach geltender Verfassung, Artikel 77, die Befugnisse des Präsidenten auf den Bundeskanzler über. So ist Seyß-Inquart für ganz kurze Zeit Regierungschef und Staatsoberhaupt in einem. Schon am Vormittag des Tages hatten Seyß-Inquart als neuer Bundeskanzler, Glaise-Horstenau als Vizekanzler und Justizminister Hueber ein neues “Bundesverfassungsgesetz” verfaßt und unterschrieben, in dem es in Artikel I heißt: „Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches.“ Artikel II verkündet, daß am 10. April 1938 eine freie und geheime Volksabstimmung über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich stattfindet.

Am 3. April, eine Woche vor der Volksabstimmung, erklärt sich der erste Nachkriegs-Bundeskanzler Dr. Renner in einem Interview im NEUEN WIENER TAGEBLATT:

“Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutsch-Österreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu Saint-Germain werde ich mit JA stimmen.”

Noch vor der Legitimation durch eine Wahl nimmt auch das Ausland Stellung. Die Regierungen in London und Paris erkennen beide schon am 2. April den Anschluß an, und Mussolini vergleicht ihn mit der Einigung Italiens im Jahre 1856. Damit ist auch Artikel 88 des Vertrags von Saint-Germain gefallen.

Die für den 10. April angesetzte Volksabstimmung wird zur Bestätigung der österreichischen Verfassungsväter von 1918. Von 4.284.795 Wählern stimmen 4.273.884 für die Wieder-vereinigung Österreichs und Deutschlands und 9.852 dagegen. Das sind 99,73 % pro Anschluß. Die Deutschen in Österreich und im so genannten Altreich – so zeigt die Wahl – sind an jenem 10. April 1938 durch das verbunden, was die Nation ausmacht: die gleiche Sprache und Kultur, die gemeinsame Geschichte, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und der Wille, zusammen zu gehören.

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Der Anschluß der Sudetenlande 1938

Die Deutschen in der Tschechoslowakei

Der Name Sudetendeutsche leitet sich von ihrer Heimat, den Sudeten ab, wie die Gebirge rund um Böhmen und Mähren bis 1945 heißen. Ab 1204 rufen böhmische Könige deutsche Bauern, Handwerker und Kaufleute zur Aufsiedlung und Entwicklungshilfe in ihr Land, wodurch die Randgebiete Böhmens und Mährens und einige Sprachinseln im Lande deutsch besiedelt werden und es über 700 Jahre bleiben. Die Deutschen sind dort, wie die Tschechen, Angehörige des Habsburger Reichs. So ist es nur natürlich, daß sie sich nach der Zerschlagung Habsburgs zunächst Österreich zugehörig fühlen. Am 29. Oktober 1918, nach dem Untergang der Habsburg-Monarchie, rufen die Abgeordneten der deutschsprachigen Wahlkreise Böhmens, Nordmährens und Österreichisch-Schlesiens die „Provinz Deutschböhmen“ aus und teilen der Wiener Nationalversammlung und dem US-Präsidenten Wilson mit, daß die Provinz ein Teil Deutsch-Österreichs werden soll. Trotz dieses klaren Votums landen die Sudetendeutschen 1918 erst durch die militärische Gewalt der Tschechen und dann 1919 durch den Spruch der Siegermächte im Staat der Tschechen und Slowaken. 1918 nutzen tschechische Soldaten, die bisher Untertanen des Kaisers von Österreich waren, den Zusammenbruch der habsburgischen Armeen, bilden die „Tschechische Legion“, erobern die nun schutzlosen Randgebiete Böhmens und Mährens und schaffen damit Fakten gegen den Willen der dort lebenden Sudetendeutschen. Im Vertrag von St. Germain schreiben die Siegermächte diese Landeroberungen der Tschechen zu Lasten Österreichs später fest.

Tschechoslowakische Minderheitenpolitik

Die Tschechoslowakei ist ein erst 1919 entstandener Kunststaat. Der Doppelname Tschechoslowakei verweist nur auf die Völker der Tschechen und Slowaken. Er verschleiert, daß die größten Völker die Tschechen mit 6,7 Millionen Bürgern und die Sudetendeutschen mit 3,1 Millionen Bürgern sind. Das Leben der Sudetendeutschen in „ihrem“ neuen Staate erweist sich bald als unerfreulich. Staatsapparat, Polizei und Militär sind überwiegend tschechisch und spiegeln den Proporz der Völker in keiner Weise wider. Wirtschaft, Schulen und Verwaltung in den bis dahin rein und überwiegend deutsch bewohnten Städten und Gemeinden werden gegen den Willen der ansässigen Bevölkerung und auch gegen die Garantien der Verfassung mit Nachdruck tschechisiert. 354 deutsche Volksschulen und 47 Mittelschulen müssen schließen. Etwa 40.000 deutsche Staatsbeamte werden aus dem Dienst entfernt. Die deutschen Städte werden umgetauft und erhalten tschechische Namen. Alle deutschen Landerwerbungen seit 1620 werden enteignet und an den tschechischen Bevölkerungsanteil „zurückerstattet” ( 1 ). Die Bestimmungen der Verträge von Saint-Germain und Trianon, die Tschechoslowakei zu einem Bundesstaat mit gleichen Rechten für alle Völker zu entwickeln, werden niemals umgesetzt. ( ( 1 ) 1620 war der protestantische Adel Böhmens nach einem Aufstand gegen das Kaiserhaus in Wien in der „Schlacht am Weißen Berge“ vernichtend geschlagen und anschließend im „Prager Strafgericht“ enteignet worden. Das damals in den Besitz des deutschen katholischen Adels übergegangene Land soll 1920 nach dem Willen der tschechischen Regierung wieder in tschechisches Eigentum übergehen. )

Die Sudetendeutsche Frage

In den 20er und 30er Jahren nimmt der Verdruß der Sudetendeutschen an der Vorherrschaft und an der Selbstbedienung der Tschechen in ihrem neuen Staate stetig zu. 1933 gelingt es einem 35jährigen Sudetendeutschen namens Konrad Henlein , die deutschsprachigen Bürger der Tschechoslowakei in einer Bewegung, die er die „Sudetendeutsche Heimatfront” nennt, zu sammeln. Henlein erkennt die Tschechoslowakei als den Staat der Sudetendeutschen an, doch er versucht, die Kultur, das Heimatrecht, die wirtschaftliche Stellung und die Arbeitsplätze der deutschen Bevölkerung in ihrem neuen Staate zu erhalten und, wo nötig, durchzusetzen. Aus der Sudetendeutschen Heimatfront bildet sich alsbald die “Sudetendeutsche Partei” (SdP), die schon bei den Mai-Wahlen 1935 stimmenstärkste Partei im Lande wird. Die Sudetendeutschen und die Slowaken drängen nun auf die in Saint-Germain versprochene innere Autonomie der Nationen im Vielvölkerstaate Tschechoslowakei.

Im Februar 1937 versucht Henlein, ein „Volksschutzgesetz” in die Prager National-versammlung einzubringen. Der Gesetzentwurf fordert die Autonomie der vielen Völker dieses Staates. Dem folgt ein ergebnisloses Gespräch Henleins mit Ministerpräsident Hodscha zur Frage der deutschen Selbstverwaltung. Weitere Gespräche zu dieser Frage lehnt Hodscha danach ab. Im Oktober kommt es im Wahlkampf zu Gemeindewahlen zur offenen Konfrontation zwischen Tschechen und Sudetendeutschen. Konrad Henlein , der zu der Zeit noch immer um die Zukunft der Deutschen innerhalb der Tschechoslowakei kämpft, schickt Staatspräsident Beneš nun ein förmliches Ultimatum mit der Aufforderung, die innere Autonomie der Sudetenlande zu erklären. Beneš würdigt Henleins Ultimatum nicht einmal einer Antwort. Da Henlein bei Hodscha und Beneš kein Gehör gefunden hat, richtet er am 19. November 1937 ein schriftliches Ersuchen an Hitler, die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei zu unterstützen Das ist sein erster Hilferuf nach außen, der letzte Schritt vor der offiziellen Bitte, die Sudetengebiete dem Deutschen Reiche anzugliedern.

Die deutsche Einmischung in die tschechische Sudetenkrise

und der Fall GRÜN

Schon am 5. November 1937 weiht Hitler die Spitzen der Wehrmacht erstmals in seine Absicht ein, die Tschechei eines Tages zu erobern und, wie vor 1918, in das Deutsche Reich einzugliedern. Aus einer Weisung an die Wehrmacht vom 21. Dezember 1937 entnimmt man, daß Hitler zu der Zeit noch keine schnelle Lösung anvisiert. Es heißt dort: „Entwickelt sich die politische Lage nicht oder nur langsam zu unseren Gunsten, so wird damit auch die Auslösung des Falles „Grün“ von unserer Seite her noch um Jahre hinausgeschoben werden müssen.“

Grün ist fortan der Tarnname der Wehrmacht für die Tschechoslowakei. Hitler läßt intern die Eroberung der Tschechoslowakei vorbereiten und verlangt nach außen und öffentlich nicht mehr, als daß die Staatsführung in Prag „die Sudetendeutschen anständig behandelt”. Am 21. April 1938 gibt Hitler dem Oberkommando der Wehrmacht den Auftrag, sich mit der Tschechoslowakei zu befassen und die Möglichkeit eines Angriffs gegen sie als sog. Studie GRÜN zu untersuchen.

Im Februar 1938 bieten Hodscha und Beneš den Sudetendeutschen Zugeständnisse bei der Pflege und Anerkennung der deutschen Sprache und Kultur an, doch sie verbinden dieses Angebot mit einer scharfen Zurückweisung aller Forderungen nach Autonomie der Nationen innerhalb der Tschechoslowakei. Die Anerkennung der deutschen Sprache und Kultur ist jedoch nur das, was den Sudetendeutschen nach der tschechoslowakischen Verfassung ohnehin schon zugestanden hätte. Die sudetendeutsche Bevölkerung ist nun mit kulturellen Zugeständnissen allein nicht mehr zu gewinnen. Arbeitslosigkeit und materielle Not der in ihren eigenen Gebieten vom tschechischen Staat wirtschaftlich benachteiligten Deutschen verschärfen den Konflikt. Am 20. Februar 1938 äußert sich Hitler zum ersten Male öffentlich zum Los der Deutschen in der Tschechoslowakei. Er fordert in einer Reichstagsrede das von Amerika proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für die Deutschen in Österreich und in der Tschechoslowakei. Hitler verlangt mit seiner Februar-Rede vor dem Reichstag noch keinen Anschluß. Er gießt kein Öl ins Feuer.

Die DAILY MAIL kommentiert den Zustand am 6. Mai 1938 in einem Leitartikel:

„Die Deutschen sind ein sehr geduldiges Volk. Ich kann mir auch nicht einen Augenblick lang vorstellen, daß Großbritannien zwanzig Jahre lang ruhig zugesehen hätte, wie drei und eine halbe Million Briten unter der Knute eines durch und durch verabscheuten Volkes lebten, das eine fremde Sprache spricht und eine völlig verschiedene nationale Weltanschauung hat. Soweit ich meine Landsleute kenne, wären sie nach wenigen Jahren gegen eine solche Vergewaltigung eingeschritten.”

Die Zuspitzung der Sudetenkrise 1938

Ab dem 24. April 1938 entwickelt die Sudetenfrage ihre eigene Dynamik. Henlein verkündet auf einem Parteitag der SdP in Karlsbad einen Forderungskatalog an die Prager Regierung. Er verlangt die volle Gleichberechtigung der deutschen Volksgruppe mit der tschechischen, eine deutsche Selbstverwaltung für die Angelegenheiten der Deutschen in den Sudetenlanden, einen gesetzlichen Schutz für die Deutschen und die volle Freiheit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und zur deutschen Weltanschauung. Er verlangt damit noch keinen Anschluß der Sudetenlande an das Deutsche Reich. Kaum daß das „Karlsbader Programm“ verkündet worden ist, verlangen die Slowaken, die Polen und die Ungarn in der Tschechoslowakei die gleiche Autonomie für sich. England und Frankreich drängen nun die Tschechoslowakei, mit den Sudetendeutschen zu verhandeln. Doch Henlein geht jetzt nicht mehr darauf ein. Im Mai 1938 werden bei Übergriffen 3 Sudetendeutsche getötet und 130 verletzt, viele davon schwer. Dazu kommen 40 Überfälle mit Mißhandlungen von sudetendeutschen Bürgern in der Tschechoslowakei.

Die Runciman-Mission

Präsident Beneš macht am 20. Mai die Armee der Tschechoslowakei mobil, beruft 180.000 Reservisten zu den Waffen und behauptet zur Begründung, Deutschland habe zuvor mobilgemacht. Das tschechische Kriegsministerium ergänzt, die deutsche Wehrmacht sei bereits mit 8 bis 10 Division auf dem Marsch zur Tschechoslowakei. Doch beide Nachrichten sind falsch. Beneš hat versucht, die Briten, Russen und Franzosen durch diesen Schachzug für sich und gegen Deutschland einzunehmen. Am 8. August 1938 entsendet die britische Regierung eine Kommission unter Sonderbotschafter Runciman nach Prag, um dort den Stand der sudetisch-tschechischen Differenzen zu ermitteln und, wenn nötig, zu vermitteln. Lord Runciman erfährt sehr schnell, daß ein Ausgleich zwischen Tschechen und Sudetendeutschen nicht mehr möglich ist. Sein Bericht vom 21. September 1938 fällt vernichtend für die Tschechen aus. Er gibt Henlein zwar die Alleinschuld für den letzten Abbruch der Gespräche. Doch im Runciman-Bericht steht auch:

„ Mein Eindruck ist, daß die tschechische Verwaltung im Sudetengebiet, wenn sie auch in den letzten 20 Jahren nicht aktiv unterdrückend und gewiß nicht “terroristisch” war, dennoch einen solchen Mangel an Takt und Verständnis und so viel kleinliche Intoleranz und Diskriminierung an den Tag legte, daß sich die Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung unvermeidlich zu einem Aufstand fortentwickeln mußte. …Sogar“ so beklagt Runciman, “jetzt noch, zur Zeit meiner Mission, habe ich bei der tschechischen Regierung keinerlei Bereitwilligkeit gefunden, diesem Sachverhalt in erschöpfendem Maße abzuhelfen.”

Runciman schließt mit der Empfehlung, die Grenzbezirke mit überwiegend deutscher Bevölkerung unverzüglich von der Tschechoslowakei zu trennen und Deutschland anzugliedern.

Die Regierungen in London und Paris warnen nun zwar die Reichsregierung in Berlin vor einem Gewaltakt zugunsten der Sudetendeutschen. Doch beide stellen intern fest, daß sie zu einem Kriege nicht gerüstet sind, und London lehnt es ab, eine Garantieerklärung für die Tschechoslowakei abzugeben.

Chamberlains erster Vermittlungsversuch und Benešs Vorschlag zur Aussiedlung der Sudetendeutschen

Chamberlain sieht realistisch, daß die Ereignisse auf einen Krieg zutreiben, der die Briten gegen ihren Willen auf die Seite der Tschechen zwingen würde. In dieser Lage versucht er zu retten, was zu retten ist. Er bietet Hitler an, gemeinsam mit ihm eine friedliche Lösung der anstehenden Probleme in der Tschechoslowakei zu suchen. Am 15. September sucht Chamberlain Hitler in Berchtesgaden auf. Hitler fordert nicht weniger und nicht mehr als die von einer deutschen Mehrheit bewohnten Grenzgebiete für das Reich und für umstrittene Bezirke eine Volksabstimmung. Der deutsche Kanzler kündigt an, er werde die Probleme der Sudetendeutschen in Bälde „so oder so aus eigener Initiative lösen”. Chamberlain versteht die Drohung dieser Worte. „So oder so” heißt in Hitlers Art, sich auszudrücken: Einlenken der Gegenseite oder Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei. Chamberlain sagt Hitler zu, die Frage des Selbstbestimmungsrechts für die Sudetendeutschen sofort mit seinem Kabinett in London zu beraten und dann baldmöglichst zu einem zweiten Gespräch nach Deutschland zurückzukommen.

Chamberlain, der ohne Mandat der Tschechen verhandelt, kann deren Einverständnis zu Henleins und Hitlers Anschlussforderung nicht erreichen. Hitler sagt Chamberlain jedoch zumindest zu, daß die Wehrmacht solange nicht marschiert, wie die deutsch-englischen Gespräche laufen. Am 19. September fordern die englische und die französische Regierung die tschechische auf, selbst und auf eigenen Entschluß mit oder ohne Volksabstimmung die Gebiete mit mehr als 50% sudetendeutscher Bevölkerung an das Deutsche Reich zu übergeben. Am 20. September, 20 Uhr, übermittelt der tschechische Außenminister Krofta den Botschaftern Englands und Frankreichs die Prager Antwort. Die Regierung der Tschechoslowakei lehnt es ab, die Sudetenlande abzutreten. Doch schon zwei Stunden später schwenkt Ministerpräsident Hodscha ein und läßt Paris und London übermitteln, daß die tschechoslowakische Regierung im Falle eines Krieges ohne britische Unterstützung zum Nachgeben bereit wäre. Die Antwort aus Paris folgt auf dem Fuß. Sie lautet: „Indem die tschechoslowakische Regierung den französisch-britischen Vorschlag ablehnt, übernimmt sie die Verantwortung dafür, daß sich Deutschland dazu entschließt, zu den Waffen zu greifen!“ Die Antwort aus London ist nicht minder klar. England und Frankreich lehnen es also ab, den Tschechen im Falle eines deutschen Angriffs beizustehen. Am 21. September um 17 Uhr übergibt der tschechoslowakische Außenminister Krofta den Botschaftern Englands und Frankreichs die endgültige Entscheidung seiner Regierung . Der englisch-französische Plan zur Abtretung der mehrheitlich von Sudetendeutschen bewohnten Gebiete wird darin „mit dem Gefühl des Schmerzes“ akzeptiert. Der Weg ist nun frei für weitere Gespräche zwischen Chamberlain und Hitler. Dieser wenig formelle Akt des Akzeptierens wird in der Geschichtsschreibung bisweilen als die „Prager Abtretung vom 21. September 1938“ bezeichnet, die in der Tat der eigentliche völkerrechtliche Akt beim Wechsel der Sudetenlande von der tschechoslowakischen Hoheit unter deutsche Hoheit ist. Damit hätte die Auseinandersetzung um die Sudetenfrage eigentlich beendet werden können. Doch es kommt anders.

Auch der tschechische Staatspräsident Beneš sucht noch eine Lösung, allerdings in seinem Sinne. Er schlägt dem französischen Präsidenten Daladier vor, böhmische Landesteile mit 800-900.000 Sudetendeutschen an Deutschland abzutreten und dafür 1,5 bis 2 Millionen Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei nach Deutschland auszusiedeln. Als Beneš´ Abtretungsplan auf keine Gegenliebe stößt , fragt er am 19. September in Moskau an, ob ihn die Sowjetunion in einem Kriege gegen Deutschland unterstützen würde. Doch auch dieser Plan schlägt fehl. Die Polen und Rumänen gewähren den Sowjets keine Durchmarscherlaubnis für die Rote Armee hin zur Tschechoslowakei.

Chamberlain und Hitler in Bad Godesberg vom 22. bis 24. September 1938

Am 22. September treffen sich Chamberlain und Hitler ein zweites Mal, diesmal in Bad Godesberg bei Bonn. Ministerpräsident Chamberlain berichtet Hitler von der nur mit Druck und Mühen erreichten Annahme des englisch-französischen Plans durch die Regierung der Tschechoslowakei. Er rechnet nun mit Hitlers Dank, doch der schiebt zu seiner Bestürzung zwei neue Forderungen nach. Er verlangt die gleichen Regelungen für die ungarische und die polnische Minderheit sowie die sofortige Besetzung der mehrheitlich von Sudetendeutschen bewohnten Zonen durch die Wehrmacht innerhalb von nur vier Tagen. Die Konferenz von Godesberg droht, an Hitlers Nachforderungen zu scheitern. Daß die zweite Forderung des deutschen Kanzlers nicht ganz unberechtigt ist, erweist sich noch während der Gespräche. In Prag wechselt die Regierung, und am zweiten Konferenztag um 22.30 Uhr verkündet die neue Regierung der Tschechoslowakei die Allgemeine Mobilmachung und ruft 1,5 Millionen Soldaten zu den Waffen. Chamberlain versucht, Hitler diese Mobilmachung als Defensivmaßnahme zu erklären, doch auch der Naivste muß jetzt merken, daß die Tschechen den französisch-englischen Plan nun nicht mehr akzeptieren.

In den Folgetagen steht Europa am Rande eines neuen Krieges. Die deutsche Wehrmacht ist mit sieben Divisionen aufmarschiert. Die tschechische Regierung lehnt Hitlers Forderungen – besonders wegen der verlangten Volksabstimmung – ab und bringt das Heer mit Reservisten auf 43 Divisionen. Hitler beharrt darauf, daß die tschechische Regierung seine Godesberger Forderungen bis zum 28. September akzeptiert. Andernfalls – so seine Drohung – werde die Wehrmacht die Sudetengebiete am 1. Oktober 1938 mit Gewalt besetzen.

Die Münchener Konferenz vom 29. und 30. September 1938

Dank der Vermittlung des italienischen Ministerpräsidenten Mussolini kommt es am 29. und 30. September 1938 dann doch zu einer Lösung. Hitler lädt die Staats- und Regierungschefs aus Rom, Paris und London nach München ein. Die Prager Regierung wird aus London informiert, doch nicht von Hitler eingeladen. Der „Führer” will mit der Regierung, die den Sudetendeutschen keine Freiheit geben wollte, nicht verhandeln. Es folgen zwei Tage harten Ringens. Am 30. September 1938 frühmorgens ist der Vertrag formuliert und unterschrieben. Die wesentlichen Punkte dieses nach dem Tagungsort benannten Münchener Abkommens lauten :

  • Die Räumung der vorwiegend deutsch bewohnten Sudetengebiete beginnt am 1. Oktober
  • und ist bis zum 10. Oktober 1938 abzuschließen.
  • Ein internationaler Ausschuß unter tschechischer Beteiligung bestimmt zusätzliche Gebiete, in denen die spätere Zugehörigkeit durch eine Volksabstimmung geklärt wird.
  • Ein Optionsrecht für Tschechen und Sudeten innerhalb von sechs Monaten stellt einen freiwilligen Bevölkerungsaustausch sicher.

Dieses Münchener Abkommen von 1938 der vier Mächte wird den Tschechen mit der dringenden Empfehlung eröffnet, es unverzüglich anzunehmen. Bis zum 10. Oktober 1938 werden die Sudetengebiete mit zirka 3 Millionen Deutschen dem Deutschen Reiche angeschlossen. Damit sind der Wählerwille und das Selbstbestimmungsrecht der Bürger in der 1918 ausgerufenen „Provinz Deutschböhmen“ mit 20jähriger Verzögerung doch noch eingelöst worden.

Das Münchener Abkommen 1938

Der genaue Wortlaut des Münchener Abkommens ist es wert, aufmerksam studiert zu werden. Die Präambel lautet: „Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien sind unter Berücksichtigung des Abkommens, das hinsichtlich der Abtretung des sudetendeutschen Gebiets bereits grundsätzlich erzielt wurde, über folgende Bedingungen und Modalitäten dieser Abtretung … übereingekommen.“ Hiermit drücken die vier Unterzeichner aus, daß die Abtretung nicht in München, sondern im Grundsatz schon zuvor entschieden worden ist. Die Formulierung „des Abkommens, das … bereits grundsätzlich erzielt wurde,“ bezieht sich ausdrücklich auf die „Prager Abtretung“ vom 21. September. Die Abtretung ist zwar auf massiven deutschen Druck erfolgt, aber dennoch nicht zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei vereinbart worden. Und das hat seine Vorgeschichte, die mit Punkt 2 des Abkommens erkennbar wird. Punkt 2 lautet: „Das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien vereinbaren, daß die Räumung des Gebiets bis zum 10. Oktober vollzogen wird.“ Hier ist Deutschland nicht erwähnt, und das hat seinen Grund. Nur die drei Siegermächte des Ersten Weltkriegs vereinbaren die Räumung der Sudetenlande mit der Tschechoslowakei, weil nur sie es sind, die den Tschechen die Rechte an den deutschen Gebieten wieder aberkennen können, die sie ihnen im November 1918 unter falschen Voraussetzungen zugesprochen hatten. Beneš hatte den Siegern 1918 in Paris falsche Angaben zu dem Bevölkerungsanteil der Deutschen und zu ihren Siedlungsflächen vorgelegt und zudem versprochen, die nationalen Minderheiten nach Art der Schweiz an ihrem neuen Staate zu beteiligen. Mit Punkt 2 des Abkommens korrigieren die Siegermächte von 1918 einen ihrer in Saint-Germain gemachten Fehler.

Das Münchener Abkommen wird nach dem Zweiten Weltkrieg annulliert, und es dient den Tschechen und den Siegern, die Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer angestammten Heimat und die Dekrete des Ministerpräsidenten Beneš zu begründen. Das Abkommen wird dabei im nachherein zur Ursache der Vertreibung und der Dekrete umgedeutet. Doch das Abkommen von München ist nicht zuerst die Ursache für die Verbrechen der Tschechen an den Deutschen im Jahre 1945 sondern vorher 1938 die Wirkung der vielen Wortbrüche, Diskriminierungen, Vergehen und Verbrechen der Tschechen an „ihren” Deutschen seit 1918. Mussolini, Daladier und Chamberlain setzen ihre Unterschriften in München nicht alleine unter den Vertrag, um Kriegsgefahr zu bannen. Sie unterzeichnen dies Abkommen über die Köpfe der Tschechen hinweg auch deshalb, weil sie nur zu gut wissen, daß die Tschechen sich die Gebiete der Sudetendeutschen 1918 ohne Rechtstitel, mit der Gewalt der Waffen angeeignet haben. Sie haben zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Tschechen und Slowaken den Deutschen und Ungarn die in Saint-Germain versprochenen und in der Verfassung von 1920 festgeschriebenen Minderheitenrechte niemals völlig zugestanden haben.
(In der gängigen Literatur sind diese Geschehnisse auch unter den Stichworten Beneš-Minderheitenpolitik – in deutscher Schreibweise Benesch-Minderheitenpolitik -, unter Sudetenland und unter Appeasement-Politik zu finden.)

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Die Tschechoslowakei auf ihrem Weg zum Protektorat 1939

Die Tschechoslowakei als Vielvölkerstaat

Die Tschechoslowakei ist nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten aus Landesteilen zusammengefügt worden, die vormals österreichisch, ungarisch, deutsch oder polnisch waren, aber nie in der Geschichte einen Staat gebildet haben. Der Name verschleiert, daß im neu geschaffenen Staat die größten Völker Tschechen und Sudentendeutsche sind und nicht Tschechen und Slowaken, und er läßt nicht erkennen, daß der neue Staat drei Landesteile hat und nicht nur zwei. Die Karpato-Ukraine, ganz im Osten der Tschecho-slowakei, bildet mit ihrer ruthenisch-ukrainischen Bevölkerung ein eigenes Gebiet. 1938 zählt die Tschechoslowakei neben 6,7 Millionen Tschechen auch 3,1 Millionen Deutsche, 2 Millionen Slowaken, 734tausend Ungarn, 460tausend Ruthenen (Ukrainer), 180tausend Juden, 75tausend Polen und 240tausend Menschen anderer Herkunft. Die Tschechen stellen damit im eigenen Staat nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung. Der Status dieses neuen Staatsgebildes ist in den Verträgen von Saint-Germain, von Trianon und von Versailles festgeschrieben. Die Verträge bestimmen, daß jede da genannten Minderheiten ihre innere Autonomie in der neuen Tschechoslowakei erhalten soll. Von Seiten der Tschechen wird das auch so zugesagt. Der tschechische Delegierte in Saint-Germain Eduard Beneš teilt den Siegermächten diese Absicht als Versprechen in einer Note vom 20. Mai 1919 schriftlich mit:

„Die tschechoslowakische Regierung hat die Absicht, ihren Staat so zu organisieren, daß sie als Grundlage der Nationalitätenrechte die Grundsätze annimmt, die in der Verfassung der schweizerischen Republik zur Geltung gebracht werden, d.h., sie will aus der Tschechoslowakischen Republik eine bestimmte Art Schweiz machen.”

Schon die Verfassung von 1920 löst die Zusagen für eine Autonomie nicht für alle Minderheiten ein. Den Slowaken gegenüber erkennen die Tschechen ihr Versprechen nicht mehr an und verweigern ihnen das zugesagte eigene Landesparlament. Auch die Deutschen, die Ungarn und die Polen werden in dieser Hinsicht nicht bedacht. Sie stehen lediglich unter dem Schutz von Minderheitenartikeln in der Staatsverfassung. Der neue Staat entwickelt sich statt dessen bald zu einem Zentralstaat in der Hand der Tschechen. Staatsapparat, Polizei und Militär sind überwiegend tschechisch. Die einsetzende Bedrückung der vielen Minderheiten durch die Tschechen belastet fortan das Verhältnis der Tschechoslowakei zu allen ihren Nachbarstaaten.

Das deutsch-tschechische Verhältnis ist dabei durch zweierlei Entwicklungen in einem besonderen Maß belastet. Die eine ist die historische Konkurrenz der Deutschen und der Tschechen, die nun offen an den Tag tritt. So veröffentlicht zum Beispiel ein tschechischer Jurist Namens Stěhule 1919 eine Denkschrift mit dem Titel „Der tschechoslowakische Staat im internationalen Recht“, in der er die Stellung der Deutschböhmen in seinem neuen Staat wie folgt beurteilt:

„… Der Deutsche als Feind der Menschheit kann das Recht auf Selbstbestimmung nicht nach seinen egoistischen Bedürfnissen wahrnehmen. … Es sind die Slawen, auf deren Kosten sich der Deutsche ausgebreitet hat, und dieses Unrecht muß nach der Meinung der Menschheit wieder gutgemacht werden, d.h. das deutsche Volk muß dieses Territorium seinen rechtmäßigen Eigentümern herausgeben.“

Mäßigendere tschechische Stimmen dringen kaum noch durch.

Die andere Entwicklung zeigt sich in der gegen Deutschland gerichteten Bündnispolitik Prags mit Moskau und Paris. 1936, während der Rheinlandkrise bieten die Tschechen den Franzosen ihre Waffenhilfe gegen Deutschlands „Rücken“ an. Verbündete sowjetische Offiziere erkunden Flugplätze in der Tschechoslowakei, um sie gegebenenfalls in einem Kriege zu nutzen. Der französische Luftfahrtminister Cot äußert noch am 14. Juni 1938 in einem Interview: „… daß gemeinsame Angriffe der französischen und der tschechischen Luftwaffe sehr schnell alle deutschen Produktionsstätten vernichten könnten.“ So bildet die Tschechoslowakei mit ihrer weit in deutsches Staatsgebiet hineingeschobenen geo-strategischen Lage und ihrer Bündnispolitik eine latente Bedrohung für das Deutsche Reich.

Hitler erwähnt in einer – von Oberst Hoßbach protokollierten – Generalsbesprechung im November 37 erstmals, daß er gedenkt, den tschechischen Landesteil der Tschechoslowakei, der bis 1918 fast 1000 Jahre lang zum Deutschen Reich gehört hat, als „Lebensraum im Osten“ und wegen der latenten Bedrohung von dort bei Gelegenheit zu annektieren. Im Dezember 1937 ordnet Hitler der Wehrmachtsführung gegenüber erstmals an, Pläne für eine spätere Eroberung der Tschechei zu erarbeiten.. Mit einer weiteren Weisung vom 21. Dezember 1937 wird die Tschechei zum eigenen Kriegs- und Eroberungsziel. Jetzt geht es auch nicht mehr alleine um die „Heimkehr“ der Sudetendeutschen. Nun steht die Tschechoslowakei als Erweiterung des deutschen Lebensraums und als militärisch dauerhaftes Risiko für Deutschlands Sicherheit auf Hitlers Tagesordnung.

Das tschechisch-slowakische Verhältnis

Abgesehen von der zunächst vertraglich vereinbarten und dann doch nicht zugestandenen Autonomie für die Slowakei übernehmen die Tschechen von Beginn an in vielen Gemeinden der Slowakei die kommunale Gewalt, die nun eigentlich auf die Slowaken übergehen sollte. Als 1928 ein führender slowakischer Politiker, der spätere Staatspräsident der Slowakei, Professor Dr. Vojtech Tuka in einer von ihm verfassten Schrift die einst zugesagte Autonomie für sein Volk verlangt, wird er mit 15 Jahren Haft bestraft. Die Unzufriedenheit der Slowaken wächst, je länger die Tschechen die Tschechoslowakei als „ihren“ Staat regieren. 1937 fordert der Chef der Slowakischen Volkspartei Andrej Hlinka noch einmal die zugesagte Autonomie für die Slowaken, dazu die Anerkennung seines Volkes als politische Körperschaft mit Minderheitenrechten und eine Besitzstandsgarantie für den Landbesitz des slowakischenn Bevölkerungsanteils. Im selben Jahr schreibt der „Slowakische Rat“ der Exilslowaken aus den USA an die tschechische Regierung einen offenen Brief, in dem es heißt:

„Mit welchem Recht habt ihr die Slowakei und Ruthenien besetzt? Wir sind keine Tschechen, keine Tschechoslowaken. Wir sind Slowaken und wollen Slowaken bleiben. Unser Volk leidet Mangel. Tschechische Polizei schießt bei Demonstrationen auf Slowaken. … Gebt uns unsere Freiheit wieder.“

Die tschechoslowakische Ehe ist Ende der 30er Jahre zerrüttet.

Die Sudetenkrise

Im. März 1938 wird Österreich an Deutschland angeschlossen. Von da an steht das Thema „Tschechoslowakei” in London, Paris und Moskau auf die Tagesordnung. Hier argwöhnt man zu Recht, daß Hitler der Sudetendeutschen wegen und um sich der Tschechen im eigenen Rücken zu entledigen, als nächstes die Tschechoslowakei erobern könnte. Auch innerhalb der Tschechoslowakei spitzt sich nun die Lage zu. Die Forderungen der Sudetendeutschen nach der Verwirklichung der in der Verfassung vorgesehenen Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei werden immer direkter vorgetragen. Die Benachteiligung und Verfolgung der Sudetendeutschen hört indes nicht auf. Vom 1. bis 31. Mai 1938 werden in der Tschechoslowakei bei Übergriffen 3 Sudetendeutsche getötet und 130 verletzt, viele davon schwer. Des weiteren sind 40 Überfälle mit Mißhandlungen von sudetendeutschen Bürger bekannt geworden.

Im August 1938 entsendet die britische Regierung eine Kommission unter Sonderbotschafter Runciman nach Prag, um dort den Stand der sudetisch-tschechischen Differenzen zu ermitteln und, wenn möglich, zu vermitteln. Lord Runciman erfährt sehr schnell, daß ein Ausgleich zwischen Tschechen und Sudetendeutschen nicht mehr möglich ist. Runcimans Bericht vom 21. September 1938 fällt vernichtend für die Tschechen aus. Runciman empfiehlt, die Grenzbezirke mit überwiegend deutscher Bevölkerung unverzüglich von der Tschechoslowakei zu trennen und an Deutschland anzugliedern. Für weitere Gebiete, in denen die Sudeten nicht die große Mehrheit bilden, schlägt er Volksabstimmungen vor und einen autonomen Status innerhalb der verbleibenden Tschechoslowakei.

In dieser Lage versucht der britische Premierminister Chamberlain zu retten, was zu retten ist.

Chamberlain verhandelt am 15. September in Berchtesgaden mit dem deutschen Kanzler Hitler und noch einmal vom 22. bis 24. September in Bad Godesberg bei Bonn, um das Problem der über drei Millionen Sudetendeutschen ohne Krieg zu lösen. Hitler verlangt den Anschluß der Sudetenlande bis zum 1. Oktober 1938 und droht anderenfalls mit Krieg. Dank der Vermittlung des italienischen Ministerpräsidenten Mussolini kommt es am 29. und 30. September 1938 auf der Münchener Konferenz dann doch zu einer Lösung. Hier beschließen die Staats- und Regierungschefs aus Rom, Paris, London und Berlin in einem Kompromiß:

  1. Die Räumung der vorwiegend deutsch bewohnten Sudetengebiete zwischen dem 1. und dem 10. Oktober 1938 und
  2. daß ein internationaler Ausschuß unter tschechischer Beteiligung zusätzliche Gebiete bestimmen soll, in denen die spätere Zugehörigkeit durch eine Volksabstimmung geklärt wird.

Dieses Münchener Abkommen der vier Mächte wird den Tschechen von den Botschaftern Englands und Frankreichs wie ein Urteil ohne Berufungsmöglichkeit eröffnet mit der dringenden Empfehlung, es unverzüglich anzunehmen. So verliert die Tschechoslowakei im Oktober 1918 ihre überwiegend deutsch bewohnten Landesteile.

Der Zerfall der Tschechoslowakei

Die Trennung der deutschsprachigen Bevölkerung vom Staat der Tschechen und Slowaken nach der Konferenz von München löst das Problem nicht, das dieser Staat seit seiner Gründung hat. Den Slowaken, Ungarn, Polen und Ruthenen (Ukrainern) sind 1919 in der „Vereinbarung von Pittsburgh“ und im Minderheitenabkommen von Saint-Germain Rechte zugesprochen worden, die sie nun – wie jetzt die Sudetendeutschen – endlich haben wollen. Doch die Tschechen kämpfen trotz des bitteren Lehrgelds, das sie in München hatten zahlen müssen, weiterhin um ihre Vorherrschaft über die Slowaken und Ruthenen. Zum Druck von innen folgt nun neuer Druck von außen. Im Oktober 1938 fordert Polen Grenzgebiete von den Tschechen, im März 1939 folgen ungarische Ansprüche. Am 13. März teilt der rumänische Außenminister Gafencu der deutschen Reichsregierung mit, daß

„Rumänien kein Interesse an einem Fortbestand der Tschechei oder der Slowakei habe, und daß es sich in keiner Weise mehr an Prag gebunden fühle”.

An diesem Tage lösen sich die Slowakei und die Karpato-Ukraine aus der Tschechoslowakei. Die slowakische Regierung bittet Hitler unverzüglich, die Schutzherrschaft über ihren neuen Staat zu übernehmen. Die Karpato-Ukraine wird sofort von Ungarn annektiert. Am 14. März 1939 hat die Tschechoslowakei aufgehört, zu existieren.

Die Tschechei wird zum Protektorat

Am 13. März 1939, nimmt der englische Botschafter Henderson in Berlin Verbindung zu Staatssekretär von Weizsäcker im Auswärtigen Amt auf. Er will erfahren, was Hitlers weitere Absicht ist. Von Weizsäcker, der Hitlers Einmarschpläne kennt, weicht aus und sagt nur: „Was auch immer getan wird, wird in einer anständigen Weise geschehen”. Henderson warnt von Weizsäcker in aller Eindringlichkeit vor dem Eingreifen Englands für den Fall, daß das Münchener Abkommen verletzt werden sollte. Diese Warnung bleibt, was Hitler später wohl vermerkt, eine leere Drohung. Henderson drängt am gleichen Tag noch seinen tschechischen Kollegen, er möge seinem Außenminister in Prag nahelegen, sofort nach Berlin zu reisen und die tschechoslowakische Entwicklung mit der Reichsregierung absprechen.

Ob auf Druck des englischen Botschafters oder aus eigenem Entschluß, am 14. März wendet sich der bisherige Staatspräsident der Tschechoslowakei, und ab diesem Tag nur noch Präsident der Tschechen, Dr. Hacha an den deutschen Kanzler. Er bittet um einen baldigen Besuchstermin. Noch am 14. nachmittags reisen Dr. Hacha und sein Außenministers Chvalkowsky mit der Bahn von Prag nach Berlin. Dr. Hacha trifft spät abends ein und wird mit allen zeremoniellen Ehren, die einem ausländischen Staatsoberhaupt gebühren, in der Reichshauptstadt empfangen. Im Vorgespräch, das der tschechische Präsident noch im Hotel mit dem deutschen Außenminister führt, sagt Dr. Hacha zu von Ribbentrop, daß er gekommen sei, „um das Schicksal der Tschechei in die Hände des Führers zu legen”. Von Ribbentrop meldet Hitler diese hachasche Redewendung, worauf der von Ribbentrop beauftragt, sofort ein deutsch-tschechisches Abkommen zu diesem Zwecke zu entwerfen.

Als Dr. Hacha bei Hitler eintrifft, ist es inzwischen 1.15 Uhr morgens; für den alten und herzleidenden Präsidenten eine arge Strapaze. Hacha kann auf das, was nun auf ihn zukommt, nicht ganz unvorbereitet gewesen sein. Bereits beim Empfang am Bahnhof hatte ihn der tschechische Botschafter davon unterrichtet, daß soeben deutsche Truppen in Mährisch-Ostrau auf tschechisches Territorium vorgedrungen wären. Ansonsten sind die deutschen Verbände, die zur Besetzung vorgesehen sind, während sich Dr. Hacha und Hitler gegenübertreten, bereits auf ihrem Marsch zur Grenze. Hitler hatte den Einmarsch deutscher Truppen schon vor zwei Tagen für diesen Morgen auf 6 Uhr in der Frühe festgelegt.

Präsident Hacha geht mit ausgestreckten Armen auf Hitler zu und eröffnet das Gespräch mit einem Schwall von Freundlichkeiten:

„Exzellenz, Sie wissen gar nicht, wie ich Sie bewundere. Ich habe alle Ihre Werke gelesen, und ich habe es möglich gemacht, daß ich fast alle ihre Reden hören konnte.”

Nach der Konferenzeröffnung ist es wieder der tschechische Präsident, der sofort das Wort ergreift. Nachdem er zunächst erklärt, daß er den nun selbständigen Slowaken „keine Träne nachweint” kommt er zum deutsch-tschechischen Verhältnis:

„Jahrhunderte lang haben unsere Völker nebeneinander gelebt und den Tschechen ist es nie so gut gegangen wie dann, wenn sie mit den Deutschen im Einvernehmen lebten. Deshalb habe ich Sie auch um eine Unterredung gebeten, denn ich will die Mißverständnisse, die zwischen unseren beiden Ländern aufgetaucht sein mögen, ausräumen. Ich lege das Schicksal meines Volkes in Ihre Hände mit der Überzeugung, daß ich es in gar keine besseren legen könnte.

Hitler erwidert zunächst freundlich, doch dann beginnt er aufzuzählen, wie die alte Tschechoslowakei das deutsch-tschechische Verhältnis ruiniert hat. Auch nach der Konferenz von München vor sechs Monaten und nach der Ausgliederung der Sudetengebiete habe sich am alten Geist der Feindschaft nichts geändert. Die tschechische Armee sinne nur auf Rache.

„So sind”, sagt Hitler, „bei mir am letzten Sonntag die Würfel gefallen. … Ich habe der Wehrmacht den Befehl gegeben, in die Rest-Tschecho-Slowakei einzurücken und sie in das Deutsche Reich einzugliedern. …. Jetzt gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: entweder leistet die tschechische Armee dem Vormarsch der deutschen Truppen keinen Widerstand. In diesem Falle hat Ihr Volk noch gute Aussichten für die Zukunft. Ich werde ihm eine Autonomie gewähren, die weit über alles hinausgeht, wovon es zu Zeiten Österreichs hätte träumen können. Oder aber ihre Truppen leisten Widerstand. In diesem Falle werden sie mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln vernichtet werden.”

Eine Verhandlung zwischen Hitler und Hacha findet nicht mehr statt. Der „Führer” drängt den tschechischen Präsidenten, seinen Truppen sofort zu befehlen, keinen Widerstand zu leisten. Der anwesende Oberbefehlshaber der Luftwaffe Göring, setzt nach und droht, andernfalls am nächsten Morgen Prag zu bombardieren. Dr. Hacha gibt schweren Herzens der Erpressung nach und weist Verteidigungsminister Sivory an, jeden Widerstand der tschechischen Armee zu unterbinden. Nachdem das klar ist, wird auch auf deutscher Seite ein Schießverbot für die Wehrmachtsteile ausgesprochen, die ab 6 Uhr die Grenzen überschreiten sollen.

Morgens um 3.55 Uhr schreiten Hitler und Dr. Hacha zur Unterzeichnung der Erklärung, die Außenminister von Ribbentrop nach seinem ersten Gespräch mit Hacha am vergangenen Abend auf Hitlers Geheiß entworfen hatte:

„… Auf beiden Seiten ist übereinstimmend die Überzeugung zum Ausdruck gebracht worden, daß das Ziel aller Bemühungen die Sicherung von Ruhe, Ordnung und Frieden in diesem Teil Mitteleuropas sein müsse. Der tschecho-slowakische Staatspräsident hat erklärt, daß er um diesem Ziel zu dienen und um eine endgültige Befriedung zu erreichen, das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches legt. Der Führer hat diese Erklärung angenommen und seinem Entschluß Ausdruck gegeben, daß er das tschechische Volk unter den Schutz nehmen und ihm eine seiner Eigenart gemäße autonome Entwicklung seines völkischen Lebens gewährleisten wird.”

Das Protektorat Böhmen und Mähren

Der Vollzug dieser erpreßten Abmachung geht erstaunlicher Weise ohne alle Reibungen über die Bühne der Tschechei. Die Wehrmacht besetzt noch bis zum Abend die Landesteile Böhmen und Mähren. Hacha bleibt Regierungschef bis 1945. Der frühere deutsche Außenminister von Neurath wird ihm als „Reichsprotektor” und Hitlers persönlicher Vertreter vorgesetzt. Die deutsche Reichsregierung übernimmt die Ressorts Außenpolitik, Finanzen, Wirtschaft und Verteidigung in eigene Regie. Hachas tschechische Regierung verfügt mit der Hoheit über Inneres, Kultur und weitere Ministerien dann nur noch über die Befugnis, ein im Inneren autonomes Eigenleben zu gestalten. Die Polizei bleibt demnach tschechisch. Das Militär wird von 150.000 Mann auf 7.000 abgerüstet.

Diese Darstellung darf nicht verdecken, daß die Protektoratsmacht Deutschland die Tschechei bis 1945 mit einem Heer von 5.000 Polizeibeamten kontrolliert und damit alle antideutschen Bestrebungen im Keim erstickt. Eine geschätzte Zahl von 36 bis 55tausend Tschechen wird in den sechs Jahren Opfer deutscher Herrschaft, wobei – auch das gehört zum deutsch-tschechischen Verhältnis – mehr als 90 Prozent der Denunziationen und Anzeigen, die zur Verhaftung von Tschechen führen, auch von Tschechen stammen.

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Der Anschluß des Memellandes 1939

Die Geschichte des Memellandes

Im 12. und 13. Jahrhundert missionieren und erobern der Livländische Schwertbrüderorden von Norden und der Deutsche Orden von Süden die baltischen Gebiete entlang der Ostseeküste. Die dort ansässigen Kuren und die deutschen Eroberer vermischen sich. Das Kurische als Sprache dieses Landstrichs stirbt dabei langsam aus. So wird das Memelgebiet schon um das Jahr 1200 deutsch. Die Litauer siedeln zu der Zeit noch weiter östlich hinter dem Siedlungsgebiet der benachbarten Szamaiten als übernächste Nachbarn.

1252 gründen deutsche Ordensbrüder dort, wo die Danje in die Ostsee mündet, an einer Stelle, die auf Kurisch „Klajs peda“ ( deutsch: flache Stelle ) heißt, ihre erste Burg und unmittelbar daneben eine deutsche Siedlung. Daß die „Memelburg“ der Ordensritter die erste Burg an diesem Platze war, ist daraus zu schließen, daß die Kuren ihre Burgen auf den Höhen bauten und nicht wie Klajs peda an einer flachen Stelle in der Niederung am Meer. So weist der heutige litauische Name Klaipeda für die früher deutsche Stadt Memel auf den kurischen Namen einer deutschen Burg hin und nicht auf eine frühere litauische Siedlung.

Ein Weiteres verdient erwähnt zu werden. Schon zur Zeit der ersten deutschen Besiedlung wandern getaufte Litauer – wenn auch in geringen Zahlen – von Osten in das Ordensland. Sie sind im damals noch heidnischen Litauen der Verfolgung ausgesetzt und suchen Schutz beim Orden. Drei Jahrhunderte danach, nach der Reformation und der Umwandlung Ostpreußens und des Memellands von einem geistlichen Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum, werden diese so genannten Kleinlitauer zusammen mit ihren deutschen Nachbarn Protestanten. Sie behalten zwar die Muttersprache, doch entwickeln sie einen eigenen litauischen Dialekt und eine deutsch-litauische Zweisprachigkeit in ihrer Alltagspraxis. Zu Ende des Ersten Weltkriegs stellen diese Kleinlitauer im Memelland 48% der ansässigen Bevölkerung. Trotz der Bezeichnung und trotz der Muttersprache fühlt sich die Mehrheit der Kleinlitauer zum deutschen Kulturkreis und zum Deutschen Reich gehörig. Bei der Memeler Volksbefragung nach den „Familiensprachen“ im Jahre 1922 bekennen sich 71.156 Memelländer zur deutschen Sprache und 67.259 zur litauischen Sprache, doch nur 2,2% der Kleinlitauer wünschen, den Lese- und Rechtschreibunterricht in den Schulen von Deutsch auf Litauisch zu wechseln. Deutsch ist inzwischen ihre zweite angestammte Sprache. Soweit zur Vorgeschichte des Memellandes.

Versailles und das Memelland

Der Landzipfel zwischen dem Fluß Memel im Süden und dem Ort Nimmersatt im Norden, der den Staat Litauen nach der geographischen Gegebenheit so ideal ergänzt, ist vor 1923 niemals litauisch gewesen. 1919 in Versailles beanspruchen die zwei Staaten Polen und Litauen das Memelland für sich. Beide sehen im Zusammenbruch des besiegten Deutschen Reichs die Chance, ihre neu formierten Länder zu Lasten Deutschlands „aufzurunden“. Die Polen wollen ganz Litauen samt Memelland für sich, die Litauer das Memelland mit der Stadt und dem Hafen Memel als Tor zur nahen Ostsee. Die alliierten Siegermächte erfüllen weder Polens noch Litauens „Ansprüche“ auf das Memelland. Auch die deutschen Versuche, das Memelland zu halten, werden von den Siegermächten abgewehrt. Drei Vorstöße der Deutschen Reichsregierung und der memelländischen Volksvertretung im Mai, im August und im September 1919 werden mit der Begründung abgelehnt, das Memelgebiet sei nach dem Versailler Vertrag nicht mehr Teil des Deutschen Reichs, und man könne deshalb mit Deutschland in dieser Sache nicht verhandeln. Das Memelland wird 1919 von den Siegermächten von Deutschland abgetrennt und als Völkerbundsmandat unter französische Verwaltung gestellt und dann 1923 völkerrechtswidrig von Litauen annektiert.

Die Annexion des Memellandes 1923 durch Litauen

Vom 10. Januar 1923 dringen 5 bis 6.000 litauische Freischärler und zivil gekleidete Soldaten in das Memelgebiet ein und vertreiben die 200 französischen Soldaten, die bis dahin das Memelland kontrollieren. Die Ständige Botschafterkonferenz der Siegermächte legt Protest ein, doch Litauen weigert sich, das Memelland herauszugeben. Die Siegerstaaten geben nach und übertragen am 16. Februar 1923 die Souveränität über das Memelgebiet an Litauen. Damit haben die Siegermächten den Versailler Vertrag ein weiteres Mal gebrochen. Sie setzen allerdings den Abschluß einer „Memelkonvention“ durch, die am 8. Mai 1924 im Namen des Völkerbunds mit Litauen geschlossen wird. Mit dieser Konvention wird Litauen auferlegt, den Memelländern eine weitgehende Autonomie in ihrem neuen Staate einzuräumen. Zur Memelkonvention gehört als Anhang das „Memelstatut“ , die Verfassung für das übertragene Gebiet.

Das Memelland unter dem Memelstatut

Die litauische Regierung ist fortan durch einen Gouverneur im Memelland vertreten. Das Land regiert sich durch ein Direktorium selbst. Die Gesetze erlässt der Memeler Landtag . Die Memelländer werden, ohne daß man sie dazu befragt hat, Litauer. Die Wahl des ersten Memeler Landtags am 29.Oktober 1925 erbringt 94% der Stimmen für die Parteien der deutschen Einheitsfront und 6% für die litauischen Parteien. Der litauische Gouverneur in Memel verweigert der deutschen 94%-Mehrheit das Recht, den Regierungschef im Direktorium zu stellen. Er setzt statt dessen einen Litauer als Chef des Memeler Direktoriums ein. Eine Beschwerde des Landtags beim Völkerbund hierzu bleibt ohne Wirkung.

Die Folgejahre bleiben für die memelländische Bevölkerung und die Litauer eine Zeit der unerfreulichen Auseinandersetzungen. Die Litauer werfen den Memelländern mangelnden Integrationswillen und Illoyalitäten vor. Die Memelländer ihrerseits beklagen eine nicht endende Kette von Verstößen der Litauer gegen die Memelkonvention. Es gibt Streit über die Benutzung des Deutschen als Schul- und zweite Amtssprache, über die Verwaltung des Memeler Hafens, über die staatliche Finanzausstattung des autonomen Memelgebiets, über die vom Staat zu leistenden Pensionszahlungen, über litauische Gerichtsurteile ohne Verfahren und Anhörung, über die konventionswidrigen Anwendungen des Kriegsrechts, über die wiederholte Absetzung des deutsch-memelländischen Chefs des Direktoriums, über die Pressezensur, über die Verhaftung von Landtagsabgeordneten, über die ständige Blockierung von Landtagsgesetzen durch den litauischen Gouverneur und so weiter und so fort.

Die 11 Klagepunkte

Im Laufe des Jahres 1935 bemüht sich Litauen um einen Nichtangriffspakt mit Deutschland. Reich zu schließen. Die Reichsregierung lehnt das mit Hinweis auf die zu oft verletzte Memelkonvention ab. Im März 1938 verlangt die deutsche Regierung von der litauischen in einer Note, die Konvention ohne Abstrich einzuhalten. Die Note besteht aus “11 Klagepunkten” von denen die Reichsregierung fordert, sie alsbald abzustellen. Die Klagepunkte sind: Der Kriegszustand im Memelgebiet seit 1926, die Beschränkungen der Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit, Verhaftungen durch den litauischen Kriegskommandanten und die litauische Politische Polizei, die weitgehende Lahmlegung der gesetzgeberischen Tätigkeiten des Memeler Landtags durch das häufige Veto des litauischen Gouverneurs im Gegensatz zu den Bestimmungen der Konvention, unangemessen umfangreiche Enteignungen von Memeldeutschen im Memeler Stadtgebiet im September 1937, Druck auf die Betriebe, deutsche durch litauische Arbeitskräfte zu ersetzen und so weiter. Bemerkenswert bei der Note der “11 Klagepunkte” ist, daß die Reichsregierung mit keiner Silbe das Verlangen äußert, das Memelland an Deutschland abzutreten.

Hitler faßt eine militärische Lösung des Problems allerdings schon im Oktober 1938 als Möglichkeit ins Auge. Am 21. Oktober gibt er der Wehrmacht die lapidare Weisung,

„Die Wehrmacht muß jederzeit darauf vorbereitet sein, das Memelland in Besitz zu nehmen“.

Konkrete Pläne und Befehle folgen daraus jedoch zunächst noch nicht.

Die ersten deutsch-litauischen Verhandlungen 1938

Nachdem Österreich und die Sudetenlande 1938 an Deutschland angeschlossen worden waren, fordern auch die Memelländer ihre Rückkehr in ihr deutschen Mutterland. Als sich die litauische Regierung ihren Herrschaftsanspruch über das Memelland von Frankreich und von England garantieren lassen will, winken beide Mächte ab. Als Konsequenz dieser außenpolitischen Lage beginnt die litauische Regierung nun, bei der deutschen zu sondieren. Der litauische Gesandte Šaulys trägt am 31. Oktober in Berlin den Wunsch vor, die deutsch-litauischen Beziehungen neu zu gestalten, und er bittet um eine Erklärung der deutschen Seite zur Unverletzbarkeit des litauischen Staatsgebiets. Das kommt dem Wunsch gleich, daß Deutschland endgültig auf das Memelland verzichtet. Die Reichsregierung verlangt jedoch vor weiteren Gesprächen erst einmal die völlige Einhaltung der Autonomie fürs Memelland. Inzwischen ist der Verdruß der Memelländer über ihre litauische Herrschaft allerdings zu groß geworden, als daß sie noch mit der Autonomie hätte befriedigt werden können. Ab November 1938 kommt es im Memelland zu prodeutschen Aufmärschen und Fackelzügen und zu der offenen Forderung nach baldiger Rückgliederung ins Deutsche Reich. Die Reichsregierung hält sich trotzdem zunächst weiterhin zurück.

Die Memeler Landtagswahl 1938

Am 20. November 1938 läßt die litauische Regierung die deutsche wissen, daß sie bereit sei, mit Deutschland über alle offenen Fragen zu verhandeln. Am 1. Dezember erklärt sie auch die Bereitschaft, dem Memelgebiet die volle Autonomie zu geben. Reichsaußenminister von Ribbentrop erwägt die Einladung seines litauischen Kollegen und läßt zwei Verträge ausarbeiten. Entwurf eins sieht die Rückkehr des Memellands zu Deutschland vor und als Gegenleistung einen litauischen Freihafen und Wirtschaftsprivilegien in Memel. Entwurf zwei verlangt nur die volle Autonomie für das Memelland. Ansonsten informiert der Außenminister sein Haus, daß eine gewaltsame Rückeroberung des Memelgebietes nicht in der Absicht Hitlers liegt.

Am 11. Dezember 1938 wird erneut gewählt.. Die deutsche Liste bekommt 87% der abge-gebenen Stimmen. Das Ergebnis wirkt wie ein Votum der Bevölkerung für den Anschluß an das Deutsche Reich.

Die Reaktionen aus Berlin und Kaunas auf die Landtagswahlen sind so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Der “Stellvertreter des Führers” Rudolf Heß erläßt am 2. Februar 1939 eine streng geheime Weisung an die deutschen Dienststellen im Memelgebiet und im Deutschen Reich, “daß jedes Hinarbeiten deutscher Parteistellen nach dem Memelgebiet zu unterbleiben habe, daß vor der Hand jeder Konflikt mit der litauischen Regierung zu vermeiden sei und daß die memeldeutsche Führung für die Durchführung dieser Weisung verantwortlich gemacht werde”.

Als am 15. März 1939 der im Dezember1938 neu gewählte Landtag noch immer nicht vom litauischen Gouverneur zu seiner ersten Sitzung einberufen worden ist, hält der Vertreter der deutschen Parteienliste Dr. Ernst Neumann eine öffentliche Rede. Er beklagt die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Memelländer. Er prangert den wirtschaftlichen Niedergang des Gebiets unter litauischer Herrschaft an, und er verlangt vom Gouverneur, den Landtag bis zum 25. März zu seiner ersten Sitzung einzuberufen. Und Dr. Neumann gibt Vertretern der Agentur Reuter und des DAILY TELEGRAPH ein Interview, in dem er erstmals öffentlich erklärt, die deutsche Bevölkerung des Memellands erwarte den Anschluß an das Deutsche Reich und hoffe, die litauische Regierung werde das Gebiet freigeben. Er fügt hinzu, daß die Memelländer keine Feindschaft gegen die litauische Bevölkerung empfinden würden, auch nicht gegen die litauischen Soldaten. – Damit ist die Katze aus dem Sack.

Der Deutsch-Litauische Staatsvertrag 1939

Nun will sich die litauische Regierung ihren Anspruch auf das Memelland von England und Frankreich garantieren lassen, doch die Regierungen in Paris und London winken ab. Am 20. März, nachdem Litauen in Paris und London keinen Rückhalt findet, reist Außenminister Urbšys nach Berlin zu Ribbentrop. Der deutsche Minister nutzt nun die ausweglose Lage des litauischen Kollegen. Er weiß, daß Litauen das Memelland einst ohne Recht und mit Gewalt genommen hat, daß es die Memelkonvention die längste Zeit nicht eingehalten hat, daß die Memelländer sich mit übergroßer Mehrheit für das Deutsche Reich entschieden haben und daß Litauen nun bei den Siegermächten keinen Rückhalt findet. Von Ribbentrop stellt Urbšys vor die Wahl.

„Es gibt zwei Möglichkeiten”, so von Ribbentrop, “eine freundschaftliche Regelung mit nachfolgendem freundschaftlichem Verhältnis zwischen den beiden Ländern. Hierbei würden wir wirtschaftlich großzügig sein und die Freihafenfrage zu Gunsten Litauens lösen. Anderenfalls ist nicht zu sehen, wo die Entwicklung endet. Kommt es im Memelgebiet zu Aufständen und Schießereien, wird Deutschland nicht ruhig zusehen. Der Führer wird blitzartig handeln und die Situation wird dann von den Militärs bestimmt.”

Von Ribbentrop beendet das Gespräch mit dem Angebot eines Vertrages, der beides regeln soll, die Rückkehr Memels und den Freihafen für Litauen. Am Folgetag berät das litauische Kabinett das deutsche Angebot und beschließt, das Memelland zurückzugeben. Am Tag danach, dem 22.März, schließen beide Länder den von Deutschland angebotenen Vertrag, der das Memelland zurück ins Reich bringt und Litauen einen Freihafen in Memel und gewisse Rechte garantiert. Zeitgleich gehen Noten der litauischen Regierung an die in London, Rom, Paris und Tokio, die nach Artikel 15 der Memelkonvention als Signatarmächte dieser Konvention “der Übertragung der Souveränitätsrechte über das Memelgebiet zustimmen” müssen. Die angeschriebenen Mächte bekunden, daß sie nichts gegen die Rückübertragung des Memellands an Deutschland unternehmen werden. So wird das Memelgebiet am 22. März 1939 völkerrechtlich wieder deutsch.

Die Heimkehr des Memellandes 1939

Schon in der Nacht zum 23. beginnt das litauische Militär, vertragsgemäß aus Memel abzurücken. In den frühen Morgenstunden marschieren dafür drei nahe stationierte deutsche Heeresbataillone von Tilsit kommend ein, und ein Dutzend Schiffe der Kriegsmarine legt im Memeler Hafen an. Die ganze Übergabe ist kein kriegerisches Unternehmen.

Der Anschluß des Memellandes entspricht dem Willen der großen Mehrheit der betroffenen Bevölkerung, und er folgt einem völkerrechtlich gültigen Vertrag. Am 15. Mai 1939 erkennt die britische Regierung die Rückkehr des Memellandes in einer Note an, in der sie schreibt:

„Ihrer Majestät Botschaft … hat die Ehre, das (deutsche) Außenministerium … davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihrer Majestät Regierung des Vereinigten Königsreichs entschieden hat, die deutsche Vereinigung mit Memel de jure anzuerkennen. …”

Diese de-jure-Anerkennung ist insofern bemerkenswert, als sie in England und bei den anderen Erste-Weltkrieg-Siegermächten bald danach vergessen ist. Auf der Siegerkonferenz von Potsdam 1945 legen der englische Premier Churchill und US-Präsident Truman gemeinsam fest, was nach ihrer Lesart „Deutschland” ist. Für sie ist es das „Deutschland in den Grenzen von 1937“ ohne Memel. Auch das Internationale Militärtribunal von Nürnberg erklärt die Heimkehr Memels in ihrem Urteil 1946 zu einer von sechs Verletzungen des Versailler Vertrags. Dies Urteil übergeht, daß die Regierungen Englands und Frankreichs der Rückgabe 1939 auf litauisches Befragen nicht widersprochen und den Artikel 99 des Versailler Vertrags damit selber aufgehoben haben. Es übergeht die „de-jure-Anerkennung” der englischen Regierung, mit der die Briten 1939 sagen, daß ihre Anerkennung „von Rechts wegen” geschieht und nicht etwa aufgrund der geschaffenen Fakten oder infolge von Gewalt.

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Wirtschaftliche Kriegsgründe 1918-1939

Weltweite ökonomische Verwerfungen

Die Jahre zwischen den beiden großen Kriegen sind eine Epoche weltweiter ökonomischer Verwerfungen . Staaten finden sich dabei zu wirtschaftlichen Bündnissen zusammen und gehen bei Notwendigkeit auch wieder auseinander. So haben wir als erstes die Gold-Block-Staaten Frankreich, Schweiz, Belgien und Niederlande, die ihre Währungen in ein festes Verhältnis zum Preis des Goldes setzen und ihr Papiergeld zu einem Wertanteil mit ihrem Staatsgold decken. Dies nennt man Goldstandard . Auch andere Staaten, wie die USA, England und die britischen Dominions führen den Goldstandard nach dem Weltkrieg wieder ein, doch sie gehen zu Beginn der 30er Jahre wieder davon ab. Sie versuchen, mit einer Mischung von freiem Handel, Manipulationen ihrer Wechselkurse, mit Schutzzöllen und Einfuhrquoten durch die wirtschaftlich schweren Zeiten der frühen 30er Jahre durchzu-kommen. Dann gibt es eine dritte Gruppe, die sogenannten Devisen-Kontroll-Staaten, die sich einerseits an den Goldstandard halten und andererseits ihre Außenhandels-Geldgeschäfte und den Außenhandel staatlich lenken. Dazu gehören Deutschland, Österreich, die Sowjet-union und eine Reihe südosteuropäischer Länder. Die vierte Gruppe sind der Sterling-Club, also England und die Dominion-Staaten, die ihre Währungen nach der Loslösung vom Goldstandard an das Pfund Sterling binden. Die Regierungen aller Staaten versuchen, den Menschen ihrer Länder „Lohn und Brot“ zu bieten, doch dieses oft zu Lasten anderer Völker. Einen weltweiten Konsens über die „einzig richtigen“ Wirtschaftsregeln gibt es nach dem Ersten Weltkrieg nicht. So führt der Kampf um „Lohn und Brot“, der zugleich ein Kampf um Macht, Reichtum und Ressourcen ist, in aller Regel auch zu Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Nationen.

Die Kriegsschulden aus dem Ersten Weltkrieg

Nach 1919 ist die Welt verändert. Die USA sind vom größten Vorkriegsschuldner zum größten Nachkriegsgläubiger geworden. Briten und Franzosen haben sich die Kosten des Ersten Weltkriegs zu großen Teilen von US-Banken finanzieren lassen. Sie müssen ihre Kriegsschulden nun in Amerika begleichen. Das Deutsche Reich hat Reparationen in einer Höhe an die Sieger zu bezahlen, die sogar das Doppelte der gesamten deutschen Kriegskosten von 1914 bis 1918 übersteigen ( 164 Mrd. RM deutsche Kriegskosten 1914-1918 [ inflationsbereinigt ] zu 331 Mrd. RM Reparationen nach der Forderung von 1921 ). Aus diesen deutschen Zahlungen hoffen Frankreich und England, ihre Kriegsschulden in den USA tilgen zu können. Auch die Sowjetunion muß noch Kriegsschulden bei ihren früheren Alliierten bezahlen, doch sie unterläßt es, da sie finanziell vom Kriege und von der Revolution stark angeschlagen ist. Mit diesen Hypotheken geht die Weltwirtschaft der frühen 20er Jahre an den Start.

Geld ist der Treibstoff für jede Art von Wirtschaft: für Handel, Investitionen, Modernisierungen, für die Finanzierung von Industrieansiedlungen, Verkehrsinfrastruktur, Handelsflotten usw. Ohne eigenes oder geliehenes Kapital kommt nichts in Gang. So arbeiten die Volkswirtschaften aller Länder in den 20er Jahren mit Leih- und Eigenkapital unter recht unterschiedlichen Bedingungen. Dazu kommt, daß die Regeln des Marktes und der Wirtschaft durch den vorhergegangenen Krieg und die Friedensverträge zu großen Teilen außer Kraft gesetzt sind. Das Geld fließt zwischen den Nationen jetzt nicht nur zur Verrechnung von gelieferten Waren und geleisteten Diensten. Es fließt in exorbitanter Menge auch zur Bezahlung der Kriegsschulden zwischen den Siegerstaaten und zur Entrichtung der Reparationen von den Besiegten an die Sieger, dies alles ohne wirtschaftlichen Gegenwert. So werden die einen Länder immer reicher und die anderen immer ärmer, bis ein normaler internationaler Warenaustausch nicht mehr möglich ist. Das alles belastet und verfälscht die Weltwirtschaft der 20er Jahre.

Die deutsche Wirtschaft nach Versailles

Für Deutschland kommt hinzu, daß es durch den Versailler Vertrag zunächst als Handels-partner weitestgehend ausgeschlossen wird. Deutsches Eigentum, das für den Außenhandel nötig wäre, wird enteignet, wie die Handelsagenturen, die Warenlager und die Immobilien im Ausland, und wie die deutsche Handelsflotte. Ab 1921 wird der deutsche Außenhandel außerdem durch einen 26%-Zoll auf alle ausgeführten Waren zusätzlich behindert. Der Zoll geht an die Siegerstaaten. Trotz dieser Lage ist Deutschland zum Export gezwungen. Es müßte nicht nur die lebensnotwendigen Importe durch Exporte in gleichem Wert verdienen. Deutschland müßte auch das Geld für seine Reparationen, die ja zunächst für 70 Jahre vorge-sehen sind, erst einmal durch die Ausfuhr deutscher Güter im Ausland einnehmen. Da das nur in sehr geringem Umfang möglich ist, lebt das Deutsche Reich in den Nachkriegsjahren vor allem von ausländischen Krediten.

Die golden twenties

In den 20er Jahren boomt die Weltwirtschaft. Nur Deutschland stürzt infolge seiner bisher nicht zurückgezahlten Kriegsanleihen, infolge der Reparationen und weiterer Kriegsfolge-lasten, wegen der Erschöpfung von Industrie und Rohstoffen und durch den gebremsten Außenhandel 1923 in eine schlimme Inflation. Im November 23 wird eine Billion „Papiermark“ in eine Rentenmark getauscht. Hinzu kommt, daß das Deutsche Reich ab Sommer 1923 zunehmend verschuldet. Nach der Inflation kommt es zu einer kleinen Konjunktur, den „golden twenties“, aber auch die beruht vor allem wieder auf Krediten aus dem Ausland. Deutschland blüht für kurze Zeit auf Pump.

Die Weltwirtschaftskrise

Englands wirtschaftliche Lage ist solang solide, bis Frankreich mit seinem Außenhandel Englands Handel abhängt und bis höhere Zinsen in Paris in großem Umfang Kapital aus London abzieht. 1926 beginnt schließlich auch Großbritanniens Goldvorrat nach Frankreich abzufließen. Frankreich schädigt so zu sagen England. 1929-30 wird Nordamerika von drei Bankenkrisen nacheinander heimgesucht, ausgelöst vom Preisverfall für Landwirtschafts-produkte und in dessen Folge vom Konkurs von 600 kleinen Banken und „gekrönt“ vom Zusammenbruch der Börse in New York im Oktober 1929. Der Börsenkrach in den USA und Englands Finanz- und Wirtschaftsschwäche schlagen weltweit durch. Die USA ziehen ihr verliehenes Kapital kurzfristig aus Deutschland ab, sodaß der New Yorker Börsenkrash auf Deutschland überspringt. Was nun folgt, sind drei Jahre weltweiter Depression.

Zu Beginn der 30 er Jahre gehen viele Staaten, wie die USA, Kanada und England vom Goldstandard ab. Weltweit beginnen die Industrienationen, ihre heimischen Volkswirt-schaften und Gold- und Devisenreserven mit Schutzzöllen, Importquoten und anderen Handelshemmnissen vor der Konkurrenz des Auslandes abzuschirmen. Frankreich und die USA sind zunächst in einer komfortablen Lage. Die US-Wirtschaft fährt trotz hoher Arbeits-losigkeit und Bankenkrisen nach wie vor Gewinne ein. Der US-Goldvorrat nimmt bis zum Kriegsbeginn hin kräftig zu. Frankreich lebt für ein paar Jahre gut von Industrie und Handel, von gesunden Banken, von Exporten und den Reparationsleistungen und –zahlungen aus Deutschland. Die Franzosen finanzieren und rüsten in der Zeit die Länder Osteuropas „in Deutschlands Rücken“ auf. England leidet zur gleichen Zeit schon unter seinem defizitärem Außenhandel, unter Kapitalflucht, dem Abfließen eines Teiles seines Goldvorrats und hoher Arbeitslosig-keit. Deutschlands Lage ist bereits beschrieben.

Die Konferenz von Lausanne 1932

Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 verändert sich das Bild. Die großen Industrienationen versuchen, nach recht unterschiedlichen Methoden dem Dilemma der Krise zu entrinnen. 1932 bemühen sich Sieger und Besiegte auf einer Konferenz in Lausanne, die Restschulden Österreichs und Deutschlands aus den noch offenen Reparationen einvernehmlich festzulegen, doch kein fremdes Land gibt Deutschland die nötigen Kredite, um die Restschuld abzutragen. Deutschland stellt die Zahlungen ein. Nun weigern sich Paris und London ihrerseits, ihre Kriegsschulden in New York zu zahlen. Dem folgt ein Kreditverbot der USA gegenüber Großbritannien und Frankreich, das bis zum Zweiten Weltkrieg gilt. Ein jeder gibt die Schuld dafür den Anderen.

beggar-my-neighbour policy

Die USA und England lösen sich vom Goldstandard und entdecken die Geldentwertung als wirtschaftliche Waffe. Der Wert von Pfund und Dollar läßt sich nun nach den Beschlüssen von Zentralbank und Regierung gegenüber dem Preis des Goldes senken. Und eine billigere eigene Währung fördert die Exporte, verbilligt die Kredite, hebt die Inlandspreise und damit die Einkommen in Industrie und Landwirtschaft, und hält tendenziell ausländische Produkte vom eigenen Markte fern. Die Staaten versuchen, mit billigen eigenen Währungen möglichst viele Waren im Ausland abzusetzen und damit Inlandsarbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten. Doch das verschiebt nur die eigene Arbeitslosigkeit ins Ausland. Der englisch-amerikanische Ausdruck von damals für diese Währungs- und Wirtschaftspolitik heißt deshalb „beggar-my-neighbour-policy“ ; in holperigem Deutsch: „ Mach-meinenNachbarn-zum-Bettler-Politik“. Das ist Wirtschaftskampf mit monetären Mitteln. Die ersten Opfer dieser Manipulationen sind Frankreich, die andere Gold-Block-Staaten und das Deutsche Reich. Die USA riegeln ihren Inlandsmarkt außerdem bis Ende 1932 durch hohe Zölle und Importquoten von der Einfuhr fremder Waren ab. Als das die Massenarbeitslosigkeit nicht lindert, wirft Roosevelt bei seinem Amtsantritt das Ruder um. Er setzt auf freien Handel und verlangt von allen Staaten, ihre Märkte für Waren und Produkte aus den USA zu öffnen. Er erhebt den „freien Handel“ ohne Zölle und Quoten zu einem der Ziele der amerikanischen Außenpolitik.

Die Konferenz von Ottawa 1932

Ab Sommer 1932 geht England einen eigenen Weg. Es bildet auf der Konferenz von Ottawa einen Wirtschaftsblock der Empire-Staaten, die ihre Währungen von nun an statt an Gold an das Pfund Sterling binden. Dieser Sterling-Club ist damit eine der neuen Sonderwirtschafts-zonen, die sich mit Handelsprivilegien nach innen und Schutzzöllen nach außen Vorteile zu schaffen suchen. Der Sterling-Block ist für die USA ein wirtschaftsschädigender Konkurrent. 1939 gelingt es Roosevelt, die „Ottawa-Zone“ zu knacken, als England Kapital und Waffen aus den USA für den Zweiten Weltkrieg braucht. Frankreich, Belgien und die anderen Gold-Block-Länder halten ihre Währungen noch für ein paar Jahre an das Gold gebunden und damit stabil. Da Franc, Belga, Gulden usw. jetzt gegenüber Pfund und Dollar teurer werden, verlieren diese Länder viel an ihren Exporten und am Volkseinkommen. Die Kapital- und Goldverluste sind so hoch, daß Frankreich 1936 den Goldstandard aufgibt und 1938 den Franc ans Pfund ankoppelt. Damit gehört auch Frankreich ab 1938 zum Sterling-Club und damit zum wirtschaftlichen „Gegnerlager“ der USA.

Die Wirtschaft im Dritten Reich

Deutschland und Österreich, sowie viele Länder Südosteuropas, des Nahen Ostens und Südamerikas haben Anfang der 30er Jahre alle ähnliche Probleme. Ihnen mangelt es an eigenem Kapital, und Deutschland fehlen seit Hitlers Wahl zum Kanzler zusätzlich die Kreditgeber im Ausland. So stagniert ihr Außenhandel und damit die Einnahmen, mit denen die notwendigsten Importe zu bezahlen wären. Dem folgen sinkende Volkseinkommen, hohe Arbeitslosigkeit und die Verelendung der ärmeren Bevölkerungsschichten.

Deutschland sucht sich seit 1933 einen eigenen Weg aus dem Dilemma: die wirtschaftliche Autarkie. Die Reichsregierung beginnt, mit zwei Vierjahresplänen die Volkswirtschaft zu steuern. Der Erste Vierjahresplan von 1933 soll die Ernährung der Bevölkerung verbessern und den schnellen Abbau der hohen Arbeitslosigkeit bewirken. Der Plan hat in erster Linie Binnenwirkung. Der Zweite Vierjahresplan von 1936 soll die wirtschaftliche Abhängigkeit des Deutschen Reichs vom Ausland minimieren. Nach der jahrelangen Abschnürung Deutschlands von seinen Rohstoff- und Nahrungsmitteleinfuhren während des vergangenen Krieges will Hitler Deutschland vor der Wiederholung einer solchen Zwangslage sichern. ( siehe hierzu Fußnote ) Der Plan von 1936 soll die Selbstversorgung Deutschlands steigern, die wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland verbessern und der Förderung des eigenen Exportes dienen. Der Zweite Vierjahresplan schlägt folglich störend auf die Volkswirtschaften anderer Länder durch. Die Reichsregierung steuert damit einen Kurs, die eigene Wrtschaft weitgehend ohne ausländische Waren, Produkte und Kredite zu sanieren. Zwei Gleise liegen auf dem Kurs, das eine für die Binnenwirtschaft, das andere für den Außenhandel. In der Binnenwirtschaft entwickeln Wissenschaft und Industrie Ersatzstoffe und Produkte, die bisher aus dem Ausland kamen. Der Geldkreislauf im Inland für die Aufbauleistungen im Straßenbau, Wohnungsbau und in der Rüstung wird mit einem Kunstgeld, den sogenannten Mefo-Wechsel , angestoßen. Die Zinssätze der Banken werden drastisch abgesenkt. Der Devisen- und Goldverkehr mit dem Ausland wird staatlich kontrolliert und der Privatwirtschaft entzogen. Dabei dürfen Gewinne ausländischer Firmen nur noch als Waren, nicht mehr als Geld ins Ausland fließen. Mit alledem wird die Volksversorgung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze angekurbelt.

Die deutsche Sonderwirtschaftszone

Auf dem zweiten Gleis spielt sich der deutsche Außenhandel ab. Das Deutsche Reich schließt mit 25 devisenschwachen Ländern in Südosteuropa, im Nahen Osten und in Südamerika zweiseitige Verträge über einen zahlungsfreien d.h. devisenlosen Außenhandel , also Ware gegen Ware, z.B. Linsen aus Chile gegen Lokomotiven aus Deutschland. Der Warenaustausch zwischen Deutschland und den Partnerländern wird monatlich Wert gegen Wert verrechnet , ohne daß noch Devisen zur Bezahlung fließen, und ohne daß der Handel mit geliehenem und verzinsten Geld vorfinanziert werden müßte. So baut sich Deutschland zwischen 1932 und 1936 eine informelle Sonderwirtschaftszone auf, ein deutsches Präferenzsystem . Die meisten der Vertragspartnerländer sind seit der Weltwirtschaftskrise so knapp an Devisen, daß sie Ihren Devisenaußenhandel staatlich kontrollieren müssen; daher die Bezeichnung Devisen-Kontroll-Staaten. An dem System des devisenlosen und weitgehend zinsfreien Außenhandels profitiert jedes Land, das sich vertraglich an Deutschland bindet. Dabei aber – und das ist der Pferdefuß – verlieren die USA, Großbritannien und Frankreich auf Märkten große Marktanteile, auf denen sie bisher beherrschend waren, besonders die USA in Südamerika. Außerdem verlieren New York und London ihre Kreditgeschäfte bei der Vorfinanzierung des Außenhandels in den Staaten, die jetzt Tauschhandel mit den Deutschen treiben.

Deutschland als wachsender Konkurrent vor dem Zweiten Weltkrieg

Es sieht so aus, als würde Deutschland vom finanziellen Zwerg zum wirtschaftlichen Riesen wachsen, und zwar zu Lasten der Sieger aus dem Ersten Weltkrieg. Das Wachstum zu einem Wirtschaftsmittelpunkt ist in der Wahrnehmung der Amerikaner, Briten und Franzosen 1939 noch nicht abgeschlossen. Hitlers und von Ribbentrops Bemühen um „freie Hand“ für eine politische Hegemonie in Ost- und Südosteuropa signalisiert, daß der deutsche wirtschaftliche Aufstieg offensichtlich weitergehen soll. Für die USA ist damit neben England und seinem Sterling-Club ein zweiter Konkurrent entstanden. Präsident Roosevelt muß sich nun Sorgen machen, daß Deutschland in Südamerika wirtschaftlich Erfolge hat und die US-Exporte dorthin behindert, daß es damit in den Ländern Südamerikas politisches Ansehen und Gewicht bekommt, daß die US-Kreditgeschäfte in Südamerika abnehmen und zuletzt auch, daß das deutsche „Modell“ in den USA an Attraktivität gewinnen und seine – Roosevelts – Popularität beschädigen könnte. Immerhin gelingt es dem deutschen Reichsbankpräsidenten und Handelsminister Hjalmar Schacht und Hitlers Politik, die Arbeitslosigkeit in Deutschland bis 1938 abzubauen und das Volkseinkommen zu verdoppeln, während Roosevelt mit seinem New-Deal-Programm trotz guten Außenhandels immer noch auf 10,4 Millionen Arbeitslosen sitzt.

Roosevelts Forderung nach weltweitem Freihandel

Wie ernst es Roosevelt mit der deutschen Konkurrenz ist, zeigt, daß er häufig vor einer Durchdringung Lateinamerikas durch die Achsenmächte warnt, und daß er sich bemüht, die südamerikanischen Staaten mit wirtschaftlichen und finanziellen Repressalien wieder aus dem deutschen Präferenzsystem herauszubrechen. Präsident Roosevelt verpackt die US-Handels- und Finanzinteressen in seinem politischen Programm der „friedlichen Weltordnung“ als Programmpunkt „friedliche und freie Handelspolitik“. In den beiden Begriffspaaren bedeutet „friedlich“ zuerst einmal US-amerikanisch. Der sogenannte freie Handel ist für Roosevelt – wie sich später zeigt – ein Kriegsgrund. Als er im März 1940 nach Polens Niederlage in Berlin, Paris und London sondieren läßt, wie man in Europa zu einem Frieden kommen könnte – England und Frankreich haben zu der Zeit Deutschlands Angebot zu einem Frieden abgelehnt – , stehen fünf Fragen auf der Tagesordnung: die Zukunft Polens und die der Tschechei, die Wirtschaftsordnung in Europa, die Abrüstung und nachgeordnet auch die Menschenrechte. Bei den Sondierungen, die der US-Unterstaatssekretär Welles in Roosevelts Auftrag bei den Deutschen vornimmt, ist der von Hitler und Göring vorgebrachte Standpunkt, daß man deutscherseits bereit ist, sich aus Polen – ohne Korridor und Danzig – zurückzuziehen, desgleichen aus der Tschechei als einem in Zukunft weitgehend entmilitarisierten Staat. Nur in den Wirtschaftsfragen beharren sowohl Hitler als auch Göring auf der deutschen Wirtschafts- und Währungspolitik, wozu das System des devisenlosen Tauschhandels mit Ländern in Südosteuropa und Südamerika gehört. Auf dieser Basis ist Roosevelt nicht an einem Frieden interessiert. Er setzt seine Politik der Vorbereitung der USA auf eine Kriegsteilnahme fort. Mit einem Kriege in Europa kann der amerikanische Präsident zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. England muß die Ottawa-Sonderwirtschaftszone als Preis für den Kriegseintritt der USA an seiner Seite opfern. Und Amerika und Großbritannien können bei einem Sieg gemeinsam Deutschlands Sonderwirtschaftszone tilgen.

Deutschlands Handel als ein Kriegsgrund unter anderen

Auch Großbritannien ist von Deutschlands eigenem Weg betroffen. Obwohl die Ottawa-Staaten sich selbst nach außen hin abriegeln und so den freien Handel unterbinden, ist Deutschlands Art, den internationalen Kapitalmarkt auszuschließen und sich durch Vorzugsregelungen die Märkte von 25 anderen Ländern zu erschließen, aus ihrer Sicht nicht akzeptabel. Wie man den deutschen Handel von London aus beurteilt, ist schon an früherer Stelle dieses Buchs beschrieben. Der englische General und Historiker Fuller schreibt nach dem Krieg rückschauend zum deutsch-englischen Verhältnis:

„Hitlers Traum war daher ein Bündnis mit Großbritannien. … Ein solches Bündnis war jedoch unmöglich, hauptsächlich deshalb, weil unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung dessen Wirtschaftspolitik des direkten Tauschhandels und der Exportprämien dem britischen und amerikanischen Handel einen tödlichen Streich versetzte.“

US-Präsident Roosevelt drückt das Gleiche an dem Tage, an dem er beschließt, die USA an der Seite Englands in den Krieg zu führen, kürzer aus, als er zu seinem Sohne Elliott sagt:

„Will irgendwer behaupten, daß Deutschlands Versuch, den Handel in Mitteleuropa zu dominieren, nicht einer der Hauptgründe für den Krieg war?“

Die Methoden, welche die Staaten zwischen der Weltwirtschaftskrise und dem Krieg anwenden, nutzen den Anwendern und schaden allen Konkurrenten, egal ob Schutzzoll, Geldabwertung, Zinsanhebung, Vorrangvertrag, Tauschhandel oder Importquoten. Sie alle sind Instrumente finanz- und handelstechnischer Natur. Doch die USA , wie auch Britannien, umhüllen diese Instrumente mit einem moralisches Gewand. Sie deklarieren ihre eigenen Konkurrenzmethoden als „friedlichen und freien“ Handel. Zum Schluß sind Pfund und Franc und Mark dem Dollar angekoppelt, der das Stück bis 1971 noch mit 0,7 Gramm Gold gedeckt ist und danach mit nichts mehr. Ab da können die USA ihre Importe mit selbstgedruckten Dollar finanzieren, während alle anderen Staaten sich ihre Importe erst verdienen müssen, meist in Dollar. Der Weg zu diesem Sieg der USA beginnt in den 30er Jahren, und der Krieg gegen das Deutsche Reich ist auf dem Weg ein Schritt .

Fußnote zu Vierjahresplan 1936: Hitlers schriftliche Aussagen in seinem Vierjahresplan beziehen sich auf einen von ihm als unausweichlich angesehenen Abwehrkampf Deutschlands gegen einen zukünftigen Angriff der bolschewistischen Sowjetunion.

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Die Aufrüstung in Europa und USA 1918-1939

Die Wiederaufrüstung der Reichswehr nach Hitlers Amtsantritt in den Jahren 1933 bis 1939 gilt landläufig als der schlagende Beweis für dessen Kriegsabsichten und Eroberungspläne. Wer allerdings aus der Rüstung eines Staates auf dessen außenpolitische Ambitionen schließen will, muß die Menge und die Qualität der Streitkräfte dieses Staates mit denen seiner Nachbar- oder Gegnerstaaten vergleichen. Einer Regierung – so eine einfache Faustformel – , die anstrebt, etwa dreimal so viele Truppen aufzustellen, wie ihre Nachbarstaaten, kann man unterstellen, daß sie Angriffsabsichten hegt. Von einer Regierung, die sich mit etwa einem Drittel der Truppen ihrer Nachbarstaaten begnügt, oder mit einem Drittel der Streitkräfte ihres stärksten Nachbarstaates, kann man annehmen, daß sie nur rüstet, um sich notfalls mit Aussicht auf Erfolg gegen Angriffe anderer Staaten zu verteidigen.

Die Rüstung 1933

Wie sah denn das Stärkeverhältnis der Reichswehr im Vergleich zu den Streitkräften Frankreichs und der mit Frankreich gegen Deutschland verbündeten Nachbarstaaten aus? Wenn man diese Rechnung für 1933 aufmacht und dabei Großbritannien und die Sowjetunion nicht mit einbezieht, – weil sie keine unmittelbaren Nachbarn sind- ergibt der Vergleich der Landstreitkräfte eine Überlegenheit des Auslands gegenüber Deutschland an aktiven Friedens-Heeresdivisionen von 1:12. Den 100.000 Mann im deutschen Heer stehen gegenüber:

655.000 Franzosen

66.000 Belgier

298.000 Polen

140.000 Tschechen und

32.000 Litauer

Hinzu kommen als weiteres Risiko für Deutschland – wenn auch erst in der zweiten Reihe – 885.000 sowjetische Soldaten.

Erschwerend kommt aus deutscher Sicht hinzu, daß Deutschland infolge des Versailler Verbots seit 15 Jahren ohne Wehrpflicht keine Reservekräfte unterhält. Die Nachbarstaaten verfügen allesamt über Waffen und Reservisten, mit denen bei Mobilmachung die Heere für den Kriegsfall vergrößert werden können. Den deutschen 100.000 Mann stünden im „K-Fall“ gegenüber

4,5 Millionen Franzosen

3,2 Millionen Polen

1,3 Millionen Tschechen

0,6 Millionen Belgier

0,15 Millionen Litauer.

So ergibt sich für den Kriegsfall eine Überlegenheit der Nachbarstaaten gegenüber Deutschland von 1:97.

Ein Vergleich der Luftstreitkräfte führt noch in ganz andere Dimensionen. Alle Nachbarn haben ihre Luftwaffen nach dem Ersten Weltkrieg weiter beibehalten. Nur Deutschland darf keine Luftstreitkräfte unterhalten und besitzt außer wenigen Schul- und Kurierflugzeugen nichts. Zum Jahreswechsel 1932 – 33, ehe Hitler deutscher Kanzler ist, wird die Aufrüstung der vielen Luftarmeen in Europa noch von der französische-italienischen Rivalität rund um das Mittelmeer, von Frankreichs allgemeiner Furcht vor Deutschland und von Englands Angst vor Frankreichs Bomberflotte angetrieben. Die Flugzeugbestände der Luftarmeen zu der Zeit betragen etwa:

  • in den USA 3.100 Militärflugzeuge
  • in Frankreich 3.000
  • in Großbritannien 1.800
  • in Italien 1.700
  • in der Sowjetunion 1.700
  • in Polen 700
  • in der Tschechoslowakei 670
  • in Belgien 350
  • in Deutschland 70

Der Vergleich der Kriegsmarinen muß – der Natur der Seestreitkräfte folgend – alle verbündeten und gegnerischen Seestreitkräfte einbeziehen, also nicht nur die der Nachbarstaaten. Hier zeigt sich, daß die Reichsmarine 1933 den Kriegsmarinen der Staaten, die den Versailler Vertrag als Gegner Deutschlands unterschreiben, 1:30 unterlegen ist.

Die wehrpsychologische Lage ist in Deutschland bei Hitlers Amtsantritt noch immer von zwei Erfahrungen der jüngsten Nachkriegszeit geprägt. Zum ersten ist noch nicht vergessen, daß in den 20er Jahren französische, belgische und litauische Truppen und auch polnische Truppen und Milizen trotz des in Versailles geschlossenen Friedens wiederholte Male in Deutschland eingefallen sind und zeitweise oder auf Dauer deutsche Grenzregionen annektiert haben, ohne daß die kleine Reichswehr mit ihren nur 100.000 Soldaten dieses hat verhindern können. Zum zweiten ist allen politisch interessierten Deutschen noch präsent, daß die Siegermächte von 1918 ihre eigenen Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag nicht eingehalten haben.

Das Abrüstungsgebot von Versailles

In Versailles ist im Vertrag vereinbart worden, daß sowohl die Sieger als auch die Besiegten ihre Truppen auf das erforderliche Mindestmaß zu reduzieren hätten. Der Vertrag sieht vor, daß Deutschland als erster Staat abrüstet, und daß die anderen Staaten danach folgen werden. Deutschland erfüllt seine Pflicht bis 1927 und baut die Reichswehr auf 100.000 Mann im Heer und 15.000 Mann in der Marine ab. Die Luftstreitkräfte werden gänzlich aufgelöst. Nun wären die Sieger an der Reihe gewesen, ihre, im Versailler Vertrag festgeschriebenen Abrüstungszusagen gleichfalls einzulösen. Der Völkerbund stellt 1927 zwar formal den Vollzug der deutschen Truppen- und Waffenreduzierung fest, aber die darauf folgende Genfer Abrüstungskonferenz von 1932-1934 führt zu keiner nennenswerten Abrüstung der Siegerstaaten aus dem Ersten Weltkrieg.

In Wahrheit denken England, Frankreich und die USA nicht daran – wie vereinbart – abzurüsten. Sie behalten umfangreiche Streitkräfte bei: Frankreich besonders Land- und Luftstreitkräfte, und die USA und England besonders Seestreitkräfte. Und sie investieren erhebliche Finanzen in die Modernisierung ihrer Waffenarsenale. Anfragen aus Deutschland, das eigene Heer wenigstens in einen verteidigungsfähigen Zustand versetzen zu dürfen, hingegen werden von den Siegerstaaten abgewiesen. So wird die Wiederaufrüstung in Deutschland ab 1933 für die deutschen Bürger durch die jüngsten Angriffe von vier Nachbarländern, durch die offenkundig fehlende Fähigkeit zur Selbstverteidigung und durch die Vertragsbrüche der Siegermächte augenfällig legitimiert.

Schon die letzten zwei Regierungen vor Hitler beschließen, die Rüstungsbegrenzungen von Versailles zu umgehen, und Deutschland mit Maßen wieder aufzurüsten. Als Hitler an die Macht kommt, zeigt sich sofort die Notwendigkeit der Wiederaufrüstung. Der polnische Regierungschef schlägt der französischen Regierung 1933 vor, Deutschland von zwei Seiten anzugreifen, was Frankreich ablehnt, doch was die Reichsregierung bald erfährt. Polen besitzt zu dieser Zeit mit seinem 298.000-Mann-Heer immerhin noch dreimal so viel Soldaten wie Deutschland mit seinem 100.000-Mann-Heer

Deutsche Abrüstungsvorschläge 1933-1935

Nach 1933 unterbreitet die deutsche Reichsregierung bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen sechsmal den Vorschlag, bestimmte Waffenkategorien wie Bomber, Artilleriegeschütze und andere Waffen für alle Staaten mengenmäßig zu begrenzen. Als das scheitert, lässt Hitler die kleine Reichswehr zu einer starken und modernen Wehrmacht ausbauen. Das einzige Ergebnis dieser Rüstungsbegrenzungsversuche ist der deutsch-britische Flottenvertrag von 1939, der Deutschlands Seestreitkräfte bei 35% der englischen begrenzt. Damit ist einerseits das Versailler Limit für die Reichsmarine aufgehoben, andererseits ist die britische Überlegenheit zur See gewahrt.

Der Rüstungswettlauf der Seestreitkräfte ab 1933

Zunächst der Blick auf das, was sich weltweit bewegt.

1932 ist der im Washingtoner-Flottenabkommen festgelegte 10-Jahres-Baustopp für Großkampfschiffe abgelaufen, in dem sich das Schwergewicht des Marinerüstens aller Staaten auf die Modernisierung der leichten Seestreitkräfte umgeschichtet hatte. Ab 1932 beginnen die großen Seemächte, wieder Schlachtschiffe, Flugzeugträger und Kreuzer auf Kiel zu legen und zu bauen. 1933 legt der neu ins Amt gekommene US-Präsident Roosevelt ein großes Kriegsflotten-Bauprogramm auf. Schon 1931 beginnen Frankreich und England neue Großkampfschiffe und Flugzeugträger auf Kiel zu legen. Deutschland erweitert und erneuert seine Flotte nach dem „1. Umbauplan“ vom Oktober 1932. Nach der Konferenz von München und dem Anschluß der Sudetenlande an das Deutsche Reich verschlechtert sich die deutsch-englische Verhältnis, und beide Staaten treten in einen neuen Rüstungswettlauf der Marinen ein. So entsteht auf deutscher Seite im Winter 1938-39 unter dem Großadmiral Raeder der sogenannte Z-Plan, der die Endausbau-Planung für die deutsche Kriegsmarine für das Zieljahr 1945 um den Faktor 3 vergrößert. Doch es fehlt dem Deutschen Reich an Werften, Stahl und Geld. Anfang 1939 steht das Stärkeverhältnis zwischen der deutschen Flotte und denen Frankreichs und Englands ist damit noch immer bei 1 zu 2 zu 6.

Die Zahl der großen Kampfschiffe beträgt am 1. September 1939

Schiffsklasse GB USA F D
Schlachtschiff 15 15 7 5
Flugzeugträger 7 5 1
schwere Kreuzer 17 18 7 1
leichte Kreuzer 48 18 12 6
Zerstörer 183 214 58 21
Summe pro Flotte 270 270 85 33

Nur an Zahl der Untersee-Boote hat die deutsche Kriegsmarine zur Royal Navy aufgeschlossen.

Zahl der Untersee-Boote am 1. September 1939

Schiffsklasse SowjU USA F GB D
U-Boote 165 95 77 57 57

Der Rüstungswettlauf der Luftwaffen ab 1933

In Deutschland, das zu der Zeit weder mit Heeres- noch mit Marinekräften in der Lage wäre, sich notfalls selbst zu schützen, wächst die Erkenntnis, daß Luftstreitkräfte und vor allem Bomber ein probates Mittel wären, fremde Staaten von Übergriffen abzuschrecken, wie sie Deutschland in den letzten 15 Jahren mehrfach wehrlos hat erdulden müssen. Bomber sind – anders als Jagdflugzeuge – das offensive Luftkriegsmittel, den Feind im eigenen Lande zu bedrohen. Und Flugzeuge – so eine weitere Überlegung – lassen sich als Abschreckungs-waffen gegenüber den zwei potentiellen Gegnern Frankreich und Polen schneller und mit erheblich weniger Rohstoffaufwand bauen als Schlachtschiffe für die Flotte oder schwere Artillerie und Panzer für das Heer. So gewinnt der Aufbau von Luftstreitkräften vorüber-gehend eine besondere Bedeutung für die Sicherheit des Reichs. So wird zügig und mit Nachdruck die neue Luftwaffe für die Wehrmacht aufgebaut.

Fast zeitgleich läuft die Luftrüstung anderer Länder in Europa. Seit 1930 werden in der Sowjetunion jährlich etwa 860 Militärflugzeuge gebaut und ab 1935 3.500. Frankreich und England rüsten ihre Luftwaffen seit den 20er Jahren gegeneinander. 1932 und 34 erweitert England seine Royal Air Force. 1935 bauen die USA ihre ersten viermotorigen Langstrecken-bomber.

Bei Kriegsausbruch ist Deutschland zwar schon zweite Luftmacht hinter Rußland, doch es ist den drei Gegnern England, Frankreich, Polen zusammen noch erheblich unterlegen. Am 1. September 1939 verfügen die europäischen Staaten über die folgende Zahlen an sogenannten Frontflugzeugen

Sowjetunion über 5.000

Deutschland 4.033

England 3.600

Frankreich 2.550

Polen 800

Rüstungswettlauf der Landstreitkräfte ab 1933

Um an die Vorgeschichte anzuschließen sei erwähnt, daß Reichskanzler von Papen im Oktober 1932 nach sechs ergebnislosen Jahren bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen beschließt, die Reichswehr notfalls ohne Einigung mit den Siegermächten zu vergrößern und daß im November 32 der 2. Rüstungsplan der Reichswehr bereits vorsieht, das deutsche Friedensheer auf 175.000 Soldaten zu erweitern und daß im Dezember 32 die Siegermächte im Völkerbund beschließen, dem Deutschen Reich in Rüstungsfragen die prinzipielle Gleichheit einzuräumen. Kurz darauf treten mit Adolf Hitler und Franklin Delano Roosevelt zwei Politiker ins Rampenlicht der Weltgeschichte, die sich in zwei Punkten gleichen: beide müssen die hohe Arbeitslosigkeit in ihren Ländern beseitigen, und beide sind gewillt, ihre außenpolitischen Vorstellungen – wenn es denn sein muß – mit Kriegen durchzusetzen. Beide haben einen Hang zu Waffen. Beide Politiker beginnen sofort nach Amtsantritt damit, ihre Länder aufzurüsten: Adolf Hitler landmachtorientiert mit Vorrang für das deutsche Heer, und Roosevelt seemachtorientiert – wie schon erwähnt – die amerikanische Marine.

Deutschland ist 1933 noch immer von Militärbündnissen Frankreichs, Polens, Belgiens und der Tschechoslowakei eingekreist. Die Deutsche Reichsregierung versucht deshalb noch ein paar mal sich gemeinsam mit Frankreich und England auf dem Verhandlungswege auf Heeresstärken-Obergrenzen zu einigen. Doch die französische Regierung lehnt das ab. So beginnt Deutschland im Alleingang, seine Reichswehr erst auf 36, dann auf 40 und schließlich auf 51 aktive Heeresdivisionen aufzurüsten. Daneben entsteht – wie in allen Nachbarstaaten – ein Reserveheer. Für die Wehrmacht sind das 51 Landwehr-, Sicherungs-, Ersatz- und Reserve-Infanteriedivisionen

Der rasante Aufbau des 102-Divisionen-Heeres läßt sich in zwei Phasen unterteilen. Zuerst entsteht bis 1936 unter dem enormen Rüstungsvorsprung aller Nachbarländer und bei dem Eindruck der Bedrohung, die die französisch-belgisch-polnisch-tschechische Umklammerung im deutschen Volk erweckt, ein aktives Heer mit 40 Divisionen, das in der Lage ist, das Reich mit einiger Aussicht auf Erfolg zu schützen. Ab 1937 wird das aktive Heer in den drei Jahren bis zum Krieg nur noch durch 5 weitere deutsche und sudetendeutsche sowie 6 österreichischen Divisionen aufgestockt.

Mit einer Streitmacht von 51 aktiven Divisionen und 51 Reservedivisionen, wenn sie voll ausgerüstet und mobilgemacht sind, hat Deutschland eine Angriffsfähigkeit erlangt, der kein Nachbarstaat allein- ausgenommen Frankreich – widerstehen kann. Andererseits sind diese 102 Divisionen auch nur die Truppenstärke, die Deutschland notfalls bräuchte, um sich gegen eine gegnerische Allianz wie im Ersten Weltkrieg zu verteidigen.

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Polens Minderheiten 1920-1939

Das neue Polen ist mit der Angliederung ehemals ukrainischer, weißrussischer, litauischer, tschechischer und deutscher Landesteile ein Vielvölkerstaat geworden. Die Bevölkerung des Landes besteht 1921 aus 30 Millionen polnischen Staatsbürgern, von den 19 Millionen – das sind zwei Drittel – als Muttersprache Polnisch sprechen. 5 Millionen sind Ukrainer, 2,5 Millionen Juden, 2 Millionen Deutsche und 1,2 Millionen sind Weißrussen. Dazu kommen weitere Minderheiten litauischer, tschechischer oder ungarischer Herkunft sowie Kaschuben und Slonzaken. Im eroberten „Ostpolen“ sind die Polen selber eine Minderheit. Auf 7,4 Millionen Ukrainer, Juden und Weißrussen kommen dort gerade einmal 1,5 Millionen angestammte Polen, also knapp ein Sechstel aller Menschen, die dort wohnen.

Polen hat die Rechte seiner Minoritäten zunächst in dem zum Versailler Vertrag gehörenden Minderheitenschutzvertrag garantieren müssen. Doch die Polen und die Siegermächte entwerten diesen Schutzvertrag alsbald mit einer Serie von gegen die Minderheiten gerichteten Handlungen und Verordnungen. Die Polen rächen damit die früher erduldete Russifizierung und Eindeutschung aus der Zeit der polnischen Teilungen. Doch sie gehen mit der Polonisierung derer, die nun Minderheit in Polen sind, weit über das hinaus, was ihnen selbst zuvor – zumindest unter deutscher und habsburger Herrschaft – zugemutet worden ist.

Der Völkerbund macht die Lage der Minderheiten in Polen wiederholt zum Thema, doch er greift kaum ein. Am 15. Juni 1932 berichtet Lord Noel-Buxton vor dem Unterhaus in London über eine Tagung des Völkerbund-Rats zu diesem Thema:

„In den letzten Tagen sind auf den Tagungen des Rats des Völkerbundes wichtige Fragen, die die nationalen Minderheiten betreffen, behandelt worden. Vor allem wurde auf der Januar-Tagung ein Bericht verhandelt, der sich mit der so genannten Terrorisierung beschäftigte, die im Herbst 1930 in der Ukraine stattgefunden hat. …. Assimilierung durch Zerstörung der Kultur ist an der Tagesordnung. … Aus dem Korridor und aus Posen sind bereits nicht weniger als 1 Million Deutsche seit der Annexion abgewandert, weil sie die Bedingungen dort unerträglich finden. … Im polnischen Teil Ostgaliziens wurden vom Ende des Krieges bis 1929 die Volksschulen um zwei Drittel vermindert. In den Universitäten, in denen die Ukrainer unter österreichischer Herrschaft elf Lehrstühle innehatten, besitzen sie jetzt keinen, obwohl ihnen 1922 von der polnischen Regierung eine eigene Universität versprochen worden war. In dem Teil der polnischen Ukraine, der früher zu Rußland gehörte, in Wolhynien, sind die Bedingungen noch härter… Wir können in diesem Zusammen-hang eine besonders beklagenswerte Tatsache nicht beiseite lassen, nämlich die Folterung von Gefangenen in Gefängnissen und von Verdächtigen, die sich die Ungnade der polnischen Behörden zugezogen haben.“

Weißrussen und Ukrainer als angestammte Mehrheit östlich der Curzon-Linie setzen sich energisch gegen alle Polonisierungs- und Katholisierungsversuche zur Wehr. Als die Regierung Polens daran geht, Land in Weißrußland zu enteignen und 1924 und 25 die weißrussische Sprache für Zeitungen und Schulen zu verbieten, kommt es zu einem Volksaufstand, zu Terror und zu Gegenterror. Bis 1938 zerstört die polnische Armee den Weißrussen und Ukrainern 127 orthodoxe Kirchen, Bethäuser und Kapellen Das Land bleibt bis zur Besetzung durch die Sowjetunion im September 1939 unbefriedet.

Auch in der Ukraine steht das Nebeneinander von Polen und Ukrainern unter einem schlechten Stern. Nach Ende des Weltkrieges kommt es zuerst zu schweren Ausschreitungen der Ukrainer gegen die Polen, die sie als frühere Unterdrücker in Erinnerung haben. Dann erobert Polen die Westukraine östlich der Curzon-Linie, und die Rache tobt in umgekehrter Richtung.. 1930 schreibt Erzbischof Szeptyćkyj, Metropolit der griechisch-katholischen Kirche von Lemberg, einen Brief an einen Freund, in dem er klagt:

„Wir durchleben schreckliche Zeiten. Die Strafexpeditionen ruinieren unsere Dörfer, unsere Schulen, unsere wirtschaftlichen Institutionen. Tausende von Dorfbewohnern, sechs Priester, Frauen, Intellektuelle wurden geprügelt, oft bis sie das Bewußtsein verloren.“

Auch die 2,5 Millionen Juden im Lande zählen als fremde Minderheit. Der polnische Historiker Halecki schreibt 1970 in seiner „Geschichte Polens“:

„Die jüdische Frage wurde besonders brennend vor dem Zweiten Weltkrieg. Dies war eine sehr einschneidende Frage, wenn man bedenkt, daß mehr als drei Millionen Juden …. über das ganze Land verstreut lebten, … Unter diesen Umständen war das Aufkommen einer antisemitischen Bewegung, aus wirtschaftlichen Gründen weit mehr als aus rassischen, fast unvermeidlich.“

Die antisemitische Bewegung, wie Halecki das bezeichnet, führt dazu, daß in den Jahren von 1933 bis 1938 557.000 Juden ihr polnisches Heimatland verlassen und Zuflucht im benachbarten Deutschland und auf dem Weg über Deutschland im westlichen Ausland suchen, meist in den USA..

Eine weitere Minderheit, jedoch mit nur 106.000 Menschen, sind die Kaschuben, die Urbevölkerung im küstennahen Pomerellen aus der Zeit vor der ersten polnischen Eroberung. Sie pflegen neben ihrer eigenen Sprache auch ihre eigene Identität. Die politische Bedeutung der Kaschuben in den 20er Jahren ergibt sich aus ihrem Siedlungsgebiet in Norden Westpreußen-Pomerellens, dort wo Pommern und Ostpreußen sich am nächsten kommen. Die Polen zählen die Kaschuben als Polen, um damit nachzuweisen, daß die Bevölkerung im Korridor schon immer polnisch war. Die Unzufriedenheit der Kaschuben mit ihrer neuen Staatsgewalt in Warschau wird ihnen von den Polen als Undank und als Dummheit ausgelegt.

Die deutsche Minderheit in Polen – zunächst gut 2 Millionen Menschen – nimmt bis 1923 auf 1,2 Millionen ab. Als erstes inhaftiert man 16.000 Deutsche als „Staatsfeinde“ in zwei Konzentrationslagern im Posener Gebiet. Ab 1922 werden die Deutschen ausgewiesen, die nach 1908 ins Land gekommen sind. Dann stellt man die Deutschen vor die Wahl, sich für Polen zu entscheiden oder für Deutschland oder andere Länder zu „optieren“ und dorthin auszuwandern. Die „Optanten“, die sich zu Deutschland oder Österreich bekennen, müssen ab 1925 das Land verlassen und werden für die zurückgelassene Habe, für das Bauernland und ihre Forsten zunächst nicht entschädigt. Zudem entläßt man die deutschsprachigen Beamten. Etwa die Hälfte der russischen, jüdischen und deutschen Schulen und Universitäten wird geschlossen. Der doppelsprachige Unterricht, soweit nach Kriegsende noch erteilt, wird per Gesetz verboten. Einem großen Teil der Deutschen, genauso wie der Ukrainer, Weißrussen, Juden und Österreicher werden ihre Arzt- und Apothekerapprobationen und die Geschäfts- und Verlagslizenzen entzogen. Und ansonsten wird polnischerseits geschäftlich alles boykottiert, was nicht polnisch ist.

Als 1938 erst Österreich und dann die Sudentengebiete mit dem Deutschen Reich vereinigt werden – oder okkupiert, wie das die Polen sehen – steigt die Angst der Polen, Deutschland könnte auch von ihnen Land und Menschen aus dem Bestand des früheren Deutschen Reichs zurückverlangen. Nach der Annexion des Teschener Gebiets durch Polen im September 38, als Hitler Verhandlungen über die Zukunft der Stadt Danzig fordert und eine Garantie für sichere Verkehrsverbindungen ins abgetrennte Ostpreußen, nimmt die Feindschaft der Polen gegen ihre deutsche Minderheit wieder scharfe Formen an. Terrorakte gegen Deutsche, die Zerstörung deutscher Geschäfte und Brandstiftungen auf deutschen Bauernhöfen werden zum Pogrom. Nach der Rückgliederung des Memellandes an das Reich im März wird die Lage der Deutschen in Polen gänzlich unerträglich. Im Sommer 1939 wird die Zahl der Deutschen, die dem entkommen wollen und Polen „illegal“ verlassen, immer größer. Bis Mitte August sind über 76.000 Menschen ins Reich geflohen und 18.000 zusätzlich ins Danziger Gebiet. Die Berichte über den Umgang der Polen mit ihrer deutschen Minderheit und die Schilderungen der Geflohenen sind Öl aufs Feuer des deutsch-polnischen Verhältnisses in den letzten Wochen und Tagen vor dem Kriegsausbruch. Der damalige Staatssekretär von Weizsäcker schreibt dazu in seinen Erinnerungen:

„Unsere diplomatischen und Konsularberichte zeigten, wie 1939 die Welle immer höher auflief und das ursprüngliche Problem, Danzig und die Passage durch den Korridor überdeckte.“

Polen hat sich, anders als von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs vorhergesehen und gewünscht, nicht zu einem Vielvölkerstaat nach Art der Schweiz entwickelt. Es verspielt von Anfang an die Chance, die Minderheiten in ein neues Vaterland zu integrieren. Man macht im neuen Polen nicht einmal den Ansatz des Versuchs, die großen Minderheiten der Deutschen, Juden, Weißrussen und Ukrainer für das eigene Land zu gewinnen. Das Bemühen, die Identität der Minderheiten zu zerstören, dreht Haß und Terror in einer Spirale fast zwei Jahrzehnte lang nach oben. So ist 1939 in Deutschland und in Rußland auch niemand mehr bereit, die Polen als die Opfer der drei früheren Teilungen zu betrachten, denen man historisch etwas schuldet. Man sieht in ihnen mittlerweile die Täter gegen Deutsche und Ukrainer, denen ein schlimmes Schicksal das Los der Minderheit in Polen aufgebürdet hat .

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Polens Bündnispolitik 1920-1939

Polens Sicherheit beruht auf einem Netzwerk von Verträgen. Zunächst knüpfen Frankreich und das Kollektiv der Siegermächte dieses Netz. Letztere binden Polen an einen Minderheitenschutzvertrag, um den vorhersehbaren Sprengstoff, den die neu geschaffenen Minoritäten bilden, zu entschärfen und um den Vaterländern dieser Minderheiten den Grund für spätere Interventionen oder Rückeroberungen zu nehmen. Polen empfindet diese Regelung als Diskriminierung und kündigt 1934 den Vertrag, der jedoch Teil des Vertragswerks von Versailles ist. Polen rüttelt damit zum zweiten Mal an der Konstruktion der Pariser Vorortverträge. Das erste Mal war das die Nichtanerkennung der Curzon-Linie. Die polnischen Regierungen demontieren damit eine Friedensordnung, auf die sie sich trotzdem immer wieder selbst berufen; eine Ordnung, die Polen später vielleicht hätte schützen können.

Das Verhältnis Polen – Frankreich

Nach 1920 knüpft Frankreich sein Netz von bilateralen Verträgen mit den Staaten Mittel-Osteuropas, um Deutschland mit einer so genannten „Kleinen Entente“ einzukreisen. Am 19. Februar 1921 schließen Polen und Frankreich einen Allianzvertrag mit dem Versprechen, sich im Falle eines nicht provozierten Angriffs durch dritte Staaten gegenseitig beizustehen. Der Vertrag wird durch eine geheime Militärkonvention ergänzt, die die französische Unterstützung im Falle eines deutschen oder sowjetischen Angriffs gegen Polen regelt. Frankreichs Absicht hinter den Verträgen ist indessen, daß Polen Frankreich mit Truppen gegen Deutschland unterstützt, sollte Frankreich dessen irgendwann einmal bedürfen.

1936, als Hitler Truppen in die Rheinlandzone einmarschieren läßt und damit die Wehrhoheit im eigenen Lande wiederherstellt, fühlt Frankreich sich zu schwach, das zu verhindern. Es macht keinen Gebrauch mehr von der Möglichkeit, die Kleine Entente zu einer „Strafaktion“ gegen Deutschland zu aktivieren. Spätestens von da an weiß man auch in Warschau, daß Paris nun nicht mehr auf die polnische Karte setzt.

Am 16. März 1939 ändert sich das wieder. Hitler bricht an diesem Tag sein Münchener Versprechen und macht die Rest-Tschechei zum Protektorat. Das ist für die Polen, Briten und Franzosen Grund zu der Befürchtung, daß die Deutschen bald auch Danzig übernehmen werden. Nun bittet Polen England und Frankreich um ein Garantieversprechen für sich selbst. Am 25. März 1939 gibt London das Versprechen. Am 31. März folgt Paris mit einer Garantieerklärung. Am 15. Mai besprechen der polnische Kriegsminister General Kasprzycki und sein französischer Kamerad General Gamelin, wie Frankreich Polen in einem Kriege unterstützen würde. Man sagt sich gegenseitig zu, gemeinsam gegen Deutschland vorzugehen. Polen stellt dabei in Aussicht, der deutschen Wehrmacht größtmögliche Verluste beizubringen und, sobald die Wehrmacht angeschlagen ist, Ostpreußen anzugreifen. Der Franzose Gamelin verspricht seinerseits eine französische Großoffensive ab dem 15. Tag der Allgemeinen Mobilmachung in Frankreich. Für Deutschland ist dabei bedeutend, daß die Zusage eines Angriffs der Franzosen gegen Deutschland auch dann gilt, wenn nicht Polen angegriffen, sondern nur Danzig an Deutschland angeschlossen wird.

Das Verhältnis Polen – Großbritannien

Großbritannien übernimmt erst kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Rolle einer „Schutzmacht“ Polens. Die Haltung Londons gegenüber Warschau bleibt zunächst lange Zeit sehr distanziert. Man registriert in England, daß Polen zwischen 1918 und 1938 mit der Sowjetunion, mit Deutschland, Litauen und der Tschechoslowakei Kriege anfängt, um sich nach allen Seiten auszudehnen. Desgleichen sieht man die Unterdrückungspolitik der Polen gegenüber den Ukrainern, Weißrussen, Juden und Deutschen mit großem Unbehagen. So ist Polen für Großbritannien bis 1939 das, was man heute als „Schurkenstaat“ bezeichnet.

Mit Hitlers Tschechei-Handstreich im März 1939 rückt Polen plötzlich wieder in das Zentrum des englischen Interesses. In London weiß man sehr genau, daß nach einer Heimkehr Danzigs irgendwann die Kolonien an die Reihe kämen, die Großbritannien 1919 Deutschland abgenommen hat. England will dem weiteren Gang der Revisionen deshalb rechtzeitig ein Ende setzen, und dazu eignet sich der deutsche Streit mit Polen um den Freistaat Danzig. Es schlägt vor, Frankreich und die Sowjetunion als weitere Garantiemächte mit ins Boot zu nehmen. Doch Polen will vermeiden, daß die Sowjetunion auf diesem Wege zur eigenen Schutzmacht wird, und bemüht sich, die Russen außen vor zu halten. In Warschau befürchtet man zu Recht, daß Moskau sich in einem Kriege gegen Deutschland die ihm 1920 abgenommenen Gebiete der West-Ukraine und Weißrußlands wiederholen könnte. Die polnische Regierung ersucht deshalb die britische um ein bilaterales Schutzabkommen gegen Deutschland. Am 31. März 1939 spricht Lord Halifax vor dem Unterhaus in London eine Garantieerklärung für Polen aus. Am 25. August, schließen London und Warschau das Beistandsabkommen, das sich die Briten und die Polen im März in London zugesichert hatten

Die Garantien aus London und Paris sind nicht nur Warnung, sie sind auch zugleich Verlockung. So sehr man in Berlin nun damit rechnen muß, daß kein weiterer Gewaltschritt ohne Antwort bleiben wird, so sehr verlockt der Schutz die Polen, in Zukunft kompromißlos gegenüber Deutschland aufzutreten. So wechselt Polen 1939 in das antideutsche Lager. Aufschluß über Englands Interessenlage gibt ein Geheimes Zusatzprotokoll, das Briten und Polen in Ergänzung zu ihrem Beistandsabkommen unterzeichnen. Im Geheimen Zusatzprotokoll vom 25. August wird präzisiert, daß das abgeschlossene Bündnis nur gegen Deutschland gültig ist. Als die Rote Armee am 17. September 1939 nach Polen einmarschiert und „Ostpolen“ annektiert, nimmt die britische Regierung dies auch ohne Konsequenz zur Kenntnis.

Das Verhältnis Polens zur Sowjetunion

ist zunächst durch den Vertrag von Riga bestimmt, in dem die Sowjets 1921 Teile der Ukraine und Weißrußlands an Polen abzutreten hatten. Für die Russen bleibt das eine offene Wunde, für die Polen ein Etappenziel. Marschall Piłsudski, dem ein neues Polen in den Grenzen der alten Polnisch-Litauischen Union von 1470 vorschwebt, verfolgt als Fernziel eine Föderation mit Litauen, ganz Weißrußland und der ganzen Ukraine unter Polens Protektorat.

1929 gelingt es dem sowjetischen Außenminister Litwinow, Polen, Rumänien und die Baltenstaaten für einen regionalen „Kriegsächtungspakt“ zu gewinnen. Sie unterzeichnen am 29. Februar 1929 das „Litwinow-Protokoll“, nach dem Kriege zwischen diesen Staaten zur Lösung internationaler Streitfälle in Zukunft ausgeschlossen werden sollen. Damit ist Polen, einschließlich seiner umstrittenen Gebiete in „Ostpolen“ vertraglich zunächst gegen Rußland abgesichert.

Am 23. Januar 1932 wird dann noch ein Polnisch-Sowjetischer Nichtangriffspakt paraphiert, im Juli unterschrieben, der die für Polen wichtige Bestimmung enthält, daß die Sowjetunion dem Deutschen Reich im Falle eines deutsch-polnischen Konflikts keinen Beistand leisten darf. Damit ist Polen durch einen weiteren Vertrag vor der Sowjetunion geschützt. Doch die Verträge von 1929 und 1932 verlieren ihre Wirkung, als Polen der Tschechoslowakei 1938 gegen Rußlands Warnung den Rest des Teschener Gebiets entreißt. Die Sowjetunion, seit 1935 ebenfalls mit der Tschechei verbündet, hatte Polen zuvor angedroht, den Polnisch-Sowjetischen Nichtangriffspakt im Falle eines Angriffs der Polen auf die Tschechoslowakei zu kündigen. So hat Polen mit der Teschener Annexion gleich zwei Verträge mit der Sowjetunion verletzt und faktisch annulliert. Man kann zwar mit Recht feststellen, daß die Sowjets später andere Nichtangriffsverträge z.B. mit Finnland und weiteren Ländern auch nicht eingehalten haben, und daß die zwei Verträge mit Polen vermutlich bei Bedarf ebenfalls gebrochen worden wären, doch der Vertragsbruch des Litwinow-Protokolls geht eindeutig von den Polen aus. Die Polen haben mit dieser eigenmächtigen Landerwerbung zu Lasten ihrer tschechischen Nachbarn auch den Kellogg-Pakt ( s. u. ) mißachtet. Sie haben die Verträge, die ihr „Ostpolen“ vor den Sowjets hätte schützen können, selbst zerrissen. Polen jagt als Hai im Haifischbecken solange mit, bis es selbst gefressen wird.

Das Verhältnis Polens zur Tschechoslowakei

Das Verhältnis der Nachbarn Tschechoslowakei und Polen bleibt in den 20 Jahren ihrer Unabhängigkeit kühl und distanziert. Ein paar Gegensätze trennen diese beiden Nachbarn. Das ist zum ersten Polens Forderung nach dem tschechoslowakischen Teil des Teschener Industriegebiets. Das ist zweitens in umgekehrter Richtung die offene Unterstützung des Tschechen für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukrainer im benachbarten polnischen Galizien. Und das ist zum dritten die Unterstützung der Polen für die Ungarn, die die ungarisch besiedelten Randgebiete der Tschechoslowakei zurückerhalten wollen.

So paktiert in diesem Raum ein jeder mit dem Feind des Nachbarn, statt mit dem Nachbarn Ausgleich und Schulterschluß zu suchen. Die polnische Führung kommt überdies schon sehr früh zu der Auffassung, daß die Tschechoslowakei als Versailler Kunstprodukt nicht lebensfähig ist und durch den inneren Nationenkonflikt von selber auseinanderbrechen wird. Als die französische Diplomatie vor der Sudetenkrise 1938 den Versuch macht, Polen gegen Deutschland einzunehmen, läßt Polens Außenminister Beck den französischen Botschafter Noël in Warschau wissen, daß die „Tschechoslowakei in naher Zukunft verschwinden müsse“ und „daß man sich in Polen selbst darauf vorbereite, einen Teil des Erbes an sich zu nehmen.“

Das Verhältnis Polens zum Deutschen Reich

Die deutsch-polnischen Beziehungen werden in Einzelheiten im nachfolgenden Kapitel „Das deutsch-polnische Verhältnis zwischen 1918 und 1939“ noch beschrieben werden. Als Außenminister Stresemann 1925 seine Versöhnungsbemühungen gegenüber Frankreich mit dem Rheinpakt und mit der Anerkennung der deutsch-französischen Grenze krönt, versucht Marschall Piłsudski, die gleichen Garantien für die deutsch-polnische Grenzen und für Polens Landgewinne zu bekommen. Der deutsche Außenminister weist Piłsudskis Wünsche ab und erklärt, daß Deutschland zwar keinen Krieg beginnen werde, doch auf Gelegenheit zu einer Neuregelung in den Grenzregionen warte. Polen seinerseits läßt nicht mit dem Bemühen nach, Danzig in kleinen Schritten und mit vielen Winkelzügen aus dem Völkerbundmandat zu lösen und sich selber einzugliedern. Zudem wollen die vielen halbamtlichen Stimmen aus Polen nicht verstummen, die Schlesien, Ostpreußen und Pommern für Polen fordern. So steht das Verhältnis beider Länder zueinander bis 1933 unter der doppelten Hypothek der deutschen Ansprüche an Polen und der polnischen Wünsche nach weiterem deutschen Land.

Erst Adolf Hitler bricht mit dieser starren deutschen Haltung. Für Hitler ist der Staat Polen ein Puffer zwischen dem „Dritten Reich“ und der ihm so verhaßten kommunistischen Sowjetunion. Unter Hitler und Piłsudski schließen Deutschland und Polen im Januar 1934 einen Freundschafts- und Nichtangriffspakt für die Dauer von 10 Jahren.

Von da an gestalten sich die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau zunächst recht positiv. Selbst bei den polnisch-deutschen Differenzen um Minderheiten und Gebiete sieht es zwischendurch so aus, als seien Lösungen zu finden. Nun folgt, eine Serie von sechs vergeblichen Versuchen von deutscher Seite, das Danzig- und das Korridor-Problem auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Kern der deutschen Kompromißvorschläge ist das Angebot, die polnischen Gebietserwerbungen in Oberschlesien, Westpreußen und Posen als endgültig anzuerkennen. Um diese Anerkennung hatte Marschall Piłsudski bis zu seinem Tode mehrfach vergeblich nachgefragt. Die 16 Reichsregierungen vor Hitler hatten diesen Wunsch der Polen nicht erfüllen wollen. Hitler bietet die erbetene Garantie nun gegen zwei „Tauschobjekte“: die Angliederung Danzigs, das völkerrechtlich ohnehin nicht polnisch ist, zurück ans Reich und exterritoriale Zugangswege in das abgetrennte Ostpreußen. Die Serie der Gespräche beginnt am 24. Oktober 1938 und setzt sich mit immer neuen Versuchen am 19. November, am 5. Januar 1939, am 25. und 26. Januar, am 21. März und am 28. April fort, bis am 30. August 1939 die letzte Offerte an Polen geht.

Am 24. Oktober 1938 schlägt Außenminister von Ribbentrop seinem polnischen Kollegen ein Acht-Punkte-Programm zur Lösung der deutsch-polnischen Probleme vor. Die wichtigsten von ihnen lauten:

  1. Der Freistaat Danzig kehrt zum Deutschen Reich zurück.
  2. Durch den Korridor wird eine exterritoriale, Deutschland gehörende Reichsautobahn und eine ebenso exterritoriale mehrgleisige Eisenbahn gebaut.
  3. Polen behält im Danziger Gebiet ebenfalls eine exterritoriale Straße oder Autobahn und Eisenbahn und einen Freihafen.
  4. Polen erhält eine Absatzgarantie für seine Waren im Danziger Gebiet.
  5. Die beiden Nationen anerkennen ihre gemeinsamen Grenzen (Garantie) oder die beiderseitigen Territorien.
  6. Der deutsch-polnische Vertrag wird von 10 auf 25 Jahre verlängert.

Trotz allen bisherigen Bemühens beider Seiten, die Beziehungen zueinander intakt zu halten, beginnt nun eine innerpolnische Entwicklung, die den Dialog zwischen polnischer und deutscher Regierung überrollt. Seit 1937 verändert sich in Polen die innere Großwetterlage. Zum ersten wird Becks „Verständigung“ mit Deutschland angegriffen. Zum zweiten erreicht die Drangsalierung der Minderheiten einen neuen Höhepunkt und drittens schießt sich die Presse in Polen auf alles Deutsche ein. Damit hat Beck so gut wie keinen Spielraum mehr. Am 19. November 1938 läßt Botschafter Lipski von Ribbentrop in einer Unterredung wissen, daß sein Außenminister Beck den deutschen Danzig-Wünschen aus innenpolitischen Gründen nicht werde zustimmen können.

Am 5. Januar unterbreitet Hitler ein zweites Mal den Vorschlag vom Oktober und bietet erneut die Anerkennung der verlorenen Gebiete als polnischen Bestand. Den Danzig-Vorschlag bringt Hitler nun auf eine entgegenkommendere Formel:

„Danzig kommt politisch zur deutschen Gemeinschaft und bleibt wirtschaftlich bei Polen.“

Selbst der Korridor soll dabei polnisch bleiben. Auch diesmal kommt ihm der polnische Außenminister kein Stück entgegen.

Im März 1939 ergibt sich für Polen eine Chance, das deutsche Drängen in Zukunft mit Englands Rückendeckung offen abzuwehren, als Hitler deutsche Truppen in die Tschechei marschieren läßt. Polens Außenminister Beck nutzt die Verärgerung der Briten und bittet die Londoner Regierung um ein Schutzabkommen gegen Deutschland. Polens Marschall Rydz-Śmigły läßt die polnischen Streitkräfte durch eine Mobilmachung verdoppeln und läßt Kampfverbände in Richtung Danzig und Pomerellen aufmarschieren. Diese Drohgebärde als Antwort auf ein Verhandlungsersuchen widerspricht dem Geist des deutsch-polnischen Vertrages, in dem zur Lösung von Streitigkeiten vereinbart worden ist:

„Unter keinen Umständen werden die Vertragsparteien zum Zweck der Austragung solcher Streitfragen zur Anwendung von Gewalt schreiten.“

Zu der Zeit gibt es von deutscher Seiten noch keine einzige Drohung gegenüber Polen.

Am 21. März ersucht Außenminister von Ribbentrop Botschafter Lipski, nach Warschau zu fahren und seiner Regierung die deutsche Bitte um neue Verhandlungen zu übermitteln. Am 26. März 1939 kehrt Lipski nach Berlin zurück und übergibt ein Antwortmemorandum, das ein mit diplomatischen Freundlichkeiten garniertes klares Nein zu den zwei deutschen Wünschen darstellt. Die Brisanz der Note liegt in dem Wortwechsel, mit der sie übergeben wird. Nachdem von Ribbentrop das polnische Memorandum gelesen hat, sagt er zu Lipski, daß diese Antwort keine Lösung darstellt. Er beharrt darauf, daß der einzig gangbare Weg die Wiedereingliederung Danzigs in das Reich und exterritoriale Transitwege seien. Lipskis Antwort darauf ist, daß

„er die unangenehme Pflicht habe, darauf hinzuweisen, daß jegliche weitere Verfolgung dieser deutschen Pläne, insbesondere soweit sie die Rückkehr Danzigs zum Reich beträfen, den Krieg mit Polen bedeuten“.

Hier taucht die erste Drohung mit dem Kriege auf. Und es ist der Pole, der sie ausspricht.

Drei Tage nach dem klaren Nein aus Polen, am 31. März 1939, verkündet die britische Regierung, daß England die Unversehrtheit Polens gegenüber Deutschland garantiert.

Die Ankündigung der Polen, statt einen Kompromiß zu schließen lieber Krieg zu führen, die provozierende Mobilmachung und das Dazwischentreten Englands nehmen Hitler in den letzten Märztagen 1939 jede weitere Hoffnung, in der Danzig-Frage auf dem bisherigen Weg allein zum Ziel zu kommen. Er setzt die militärische Option erst jetzt neben weitere Verhandlungen. Am 3. April gibt Adolf Hitler der Wehrmacht erstmals den Auftrag, einen Angriff gegen Polen so vorzubereiten, daß er ab 1. September 1939 möglich ist. Polen tanzt ab dem 3. April 1939 auf dem Vulkan. Der Ausbruch ist für den 1. September angesagt.

Hitler sieht in der polnischen Mobilmachung als Antwort auf ein Verhandlungsanerbieten und im Britisch-Polnischen Abkommen einen Bruch des Deutsch-Polnischen Freundschafts- und Nichtangriffsvertrages von 1934, den er deshalb am 27. April mit einem Memorandum kündigt. Im Memorandum erkennt Hitler noch einmal Polens Anspruch auf Westpreußen-Pomerellen und den Ostsee-Zugang an. Er schlägt vor, die Streitpunkte zwischen Deutschland und Polen durch neue vertragliche Regelungen endgültig aus der Welt zu schaffen. Hitler droht Polen im Memorandum mit keinem einzigen Wort mit Gewaltmaßnahmen oder Krieg. Noch immer wäre bei einer Rückkehr Danzigs der Weg zum Frieden zwischen dem Deutschen Reich und Polen offen.

In Polen beurteilt man die Dinge völlig anders. Am 5. Mai 1939 begründet Außenminister Beck seine Politik des Status quo und der Abweisung der deutschen Forderungen vor dem Seijm. Der Status der Freien Stadt – so sagt er – beruhe nicht auf den Verträgen von Versailles, sondern auf der jahrhundertelangen Zugehörigkeit der Stadt zu Polen. Das Angebot der Deutschen, alle Gebietserwerbungen früher deutscher Territorien durch Polen nach dem Ersten Weltkrieg als endgültig polnisch anzuerkennen, sei kein Angebot. Die Gebiete seien „de jure und de facto“ längst unbestreitbar polnisch.

Am gleichen Tag, dem 5. Mai, antwortet die polnische Regierung der deutschen auf die Kündigung des Nichtangriffspaktes mit einer Note, in der sie die Respektierung der Rechte Polens im Freistaat Danzig fordert. Doch genau die sind im abgelehnten deutschen Vorschlag zugesichert worden. Zudem fordert Polen in der Note, daß Deutschland den Nichtangriffspakt von 1934 einhält, weil der vor Ablauf von 10 Jahren nicht gekündigt werden darf. Dabei wird tunlichst übergangen, daß die Teilmobilmachung in Polen und der Aufmarsch von Truppen vor den Toren Danzigs selbst Verstöße gegen das Abkommen von 1934 waren. Außerdem beruft sich die polnische Regierung in ihrer Note auf den Kellogg-Pakt, den sie schon viermal selbst gebrochen hat. Im Kern schlägt die polnische Note vom 5. Mai 1939 nichts anderes vor, als daß Deutschland den Verbleib Danzigs außerhalb des deutschen Reichsverbandes im Verein mit Polen selber garantieren soll.

Was nun folgt, ist wie der Rutsch auf schiefer Ebene. Im Juni und Juli 1939 nehmen die Drangsalierungen der Minderheiten in Polen, die Grenzzwischenfälle und der Druck aus Danzig derart zu, daß ein spannungsfreies Verhandeln zwischen der polnischen und der deutschen Regierung nicht mehr möglich ist. Ende Juli, Anfang August belastet ein Streit zwischen Polen und dem Danziger Senat um den Zolldienst im Freistaat zusätzlich das deutsch-polnische Verhältnis. Der Danziger Senat gibt auf Anraten Hitlers nach, und polnische sowie französische Zeitungen berichten, Hitler sei vor der festen Haltung Polens in die Knie gegangen. Der Streit beginnt nun auch psychologisch abzugleiten.

Am 30. August 1939 schiebt Hitler in allerletzter Stunde ein neues Angebot – wie es die Deutschen meinen – beziehungsweise eine neue Forderung – wie es die Polen sehen – nach. Hitler baut eine Brücke, über die die Polen gehen könnten. Das Angebote umfaßt 16 Punkte. Dazu gehören:

  • Danzig kehrt heim ins Reich.
  • Im nördlichen Korridor soll die Bevölkerung in einer Abstimmung selbst entscheiden, ob das Gebiet polnisch oder deutsch wird.
  • Die Hafenstadt Gdingen bleibt dabei auf jeden Fall polnisch.
  • Je nach Abstimmungsergebnis im Korridor erhält entweder Deutschland exterritoriale Verkehrswege nach Ostpreußen oder Polen exterritoriale Verkehrswege nach Gdingen.
  • Die Beschwerden der deutschen Minderheit in Polen und die der polnischen Minderheit in Deutschland werden einer internationalen Kommission unterbreitet und von dieser untersucht. Beide Nationen zahlen Entschädigungen an betroffene Geschädigte nach Maßgabe der Kommission.
  • Im Falle einer Vereinbarung nach diesen Vorschlägen demobilisieren Polen und Deutschland sofort ihre Streitkräfte.

Dies ist das sechste und letzte Angebot von deutscher Seite. Hitler läßt den Polen nun keinen Raum mehr, auf Zeit zu spielen. Er setzt eine Frist für den Gesprächsbeginn. Er „erwartet“, daß Warschau bis zum 30. August 1939 um 24 Uhr einen bevollmächtigten Unterhändler nach Berlin entsendet. Außenminister Beck dagegen will weder den Zeitdruck noch den Verhandlungsort Berlin akzeptieren. Er weist Lipski in der deutschen Hauptstadt an, den neuen deutschen Vorschlag nicht entgegenzunehmen. Einen Tag und fünf Stunden nachdem der vorgeschlagene und „erwartete“ Termin für den Beginn neuer Gespräche ergebnislos verstrichen ist, marschiert die Wehrmacht in Polen ein.

Polen und der Kellogg-Pakt

Ein weiteres Vertragswerk, das die Polen hätte schützen können, ist der schon erwähnte Kellogg-Pakt von 1928, in dem die USA, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Polen, Deutschland und andere erklären,

„daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.“

und

„daß die Regelung und Entscheidung aller Streitigkeiten …, die zwischen ihnen entstehen könnten, …, niemals anders als durch friedliche Mittel angestrebt werden sollen.“

Der Pferdefuß an dem Vertrag für Polen ist die Präambel. Sie bestimmt, daß

„jede Signatarmacht, die zum Kriege schreitet, der Vorteile, die dieser Vertrag gewährt, verlustig erklärt werden sollte.“

Nachdem Polen versucht hat, Frankreich 1933 zum Kriege gegen Deutschland zu bewegen, und nachdem es 1938 erst Litauen und dann die Tschechoslowakei mit Krieg bedroht hat, liegt auf der Hand, daß Deutschland und die Sowjetunion der Empfehlung folgen und den Kellogg-Pakt nicht mehr für Polen gelten lassen.

Die Bilanz

In der Bilanz hat Polen 1939 wenig zu seinen Gunsten vorzuweisen. Die Annexion von Land von vier der Nachbarstaaten, dieAußenpolitik der ständigen Vorteilnahme ohne eigene Vertragstreue wird für Polen zur „Reise nach Jerusalem“. Es wechselt seinen Platz so oft, daß ihm zum Schluß kein Stuhl mehr bleibt. Das Patronat des Völkerbunds und die Sympathie Englands hat Polen schnell mit den Brutalitäten gegen seine Minderheiten abgenutzt. Frankreichs Polenliebe ist erloschen, seit Deutschland auf Elsaß und Lothringen verzichtet hat. Der Kellogg-Pakt ist so oft gebrochen worden, daß Polen keinen Schutz mehr durch ihn zu erwarten hat. Der Vertrag mit Rußland ist 1938 für das halbe Industrierevier von Teschen geopfert worden. Der Vertrag mit Deutschland wird mißachtet, als die Reichsregierung um Gespräche wegen Danzig bittet, Polen daraufhin mobil macht und Truppen vor Danzig aufmarschieren läßt. Der Vertrag, den Polen dafür mit England schließt, bringt Polen keine Sicherheit. Großbritannien will Deutschland die Flügel stutzen und nicht Polen retten. England überlaßt die Polen – als es ernst wird – erst den Deutschen und dann der Sowjetunion. Nach knapp zwei Jahrzehnten neuer Souveränität steht Polen im August 1939 auf dem Scherbenhaufen seiner Außenpolitik, drei Wochen später ist es selbst ein Scherbenhaufen.

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Das deutsch-polnische Verhältnis zwischen 1918-1939

Die zwischenstaatlichen Beziehungen vieler Länder in Europa zwischen 1918 und 1939 sind alles andere als friedlich. Sie sind eruptiv. Polen und die Sowjetunion haben ihre Spannungen und Kriege. Polen und Litauen leben in andauernder Spannung und führen einen Krieg. Italien fällt über Albanien her. Frankreich und Italien haben Differenzen um Territorien; genauso Dänemark und Norwegen, Italien und Griechenland, Jugoslawien und Österreich, Deutschland und die Tschechoslowakei, Ungarn und die Tschechoslowakei, Polen und die Tschechoslowakei, England und Irland und Spanien und Italien. Trotz der zuerst genannten Kriege und der dann aufgezählten Vielzahl an zwischenstaatlichen Differenzen entzündet sich der Zweite Weltkrieg erst 1939 an den polnisch-deutschen Streitigkeiten. Der große Knall kommt erst, als Adolf Hitler 1939 Danzig zurückverlangt, dazu eine exterritoriale Autobahn- und Eisenbahnverbindung zwischen dem Reichsgebiet und dem seit 1918 abgetrennten deutschen Ostpreußen und eine Garantie für die Gewährung der Menschenrechte für die deutsche Minderheit in Polen. Adolf Hitler löst den Krieg aus, als er die drei genannten Probleme nach langer Verhandlungsdauer schließlich mit Gewalt löst. Warum erst 1939?

Das deutsch-polnische Verhältnis ist zwischen beiden Kriegen nicht immer so schlecht wie 1939. Der Start ist schlecht und auch das Ende. 1918 nehmen sich die Polen, nachdem das Deutsche Reich im Westen gegenüber den USA, Großbritannien und Frankreich hatte kapitulieren müssen, im Osten die bis dahin deutschen Provinzen Posen und Westpreußen. Das im Westen geschlagene Deutschland kann es militärisch und diplomatisch nicht verhindern. Die Polen nehmen sich die zwei Provinzen, ehe ihnen diese Gebiete durch die Siegermächte in Versailles zugestanden werden. Für die mehrheitlich von Polen bewohnte Provinz Posen wird das in Deutschland akzeptiert. Aber die Provinz Westpreußen ist zu 70% deutsch bevölkert, so daß dieser eigenmächtige Gewaltstreich Polens in der Weimarer Republik von keiner der demokratisch legitimierten Reichsregierungen anerkannt wird.

1918 und 1919 fordert Polen in Versailles außerdem Teile Pommerns, Schlesiens und ganz Ostpreußen für sich, was ihm jedoch nicht zugestanden wird, aber doch Ängste in Deutschland hinterläßt. 1921 startet Polen den Versuch, ganz Oberschlesien mit Milizen und den dort überwiegend in dritter Generation ansässigen polnischen Gastarbeitern zu erobern. Nach einer Volksabstimmung, die Polen zu verhindern versucht, erhält es das ostoberschlesische Industriegebiet von den Siegerstaaten zugesprochen. 1933 fordert Polen Frankreich dreimal zu einem Zweifrontenkrieg gegen Deutschland auf, was Frankreich allerdings ablehnt. Polen verfügt 1933 mit 298.000 Mann im Heer immerhin noch über dreimal so viel Militär wie Deutschland mit seinem 100.000-Mann-Heer. So wird Polen vor Hitlers Amtsantritt 1933 von allen demokratischen Parteien in Deutschland und von der Reichswehr als Bedrohung angesehen.

Erst unter den Diktatoren Hitler in Deutschland und Pilsudski in Polen gibt es eine Annäherung für ein paar Jahre, die auch nach Pilsudskis Tod 1935 noch für eine Weile anhält. Nach Pilsudskis Versuch von 1933, Frankreich zu einem Krieg gegen Deutschland aufzurufen – der ja gescheitert ist – lenkt Pilsudski ein. Er schließt 1934 mit Hitler einen Freund-schaftsvertrag. Das nun stabile deutsch-polnische Verhältnis führt dazu, daß die polnische Regierung sich 1938 ihre Landerwerbung in der damals zerfallenden Tschechoslowakei von Hitler billigen läßt. Polen annektiert daraufhin 1938 den tschechischen Teil des Industrie-gebiets von Teschen und dabei auch die weitgehend deutsch bevölkerte Stadt Oderberg. ( Das Teschener Gebiet liegt in südöstlicher Fortsetzung Oberschlesiens ) Die Stadt Oderberg wird im Fortgang der Geschichte noch eine Rolle spielen.

Da Polen von 1918 bis 1938 seine Nachbarn Sowjetunion, Litauen, Deutschland und die Tschechoslowakei je ein- oder mehrfach angegriffen und Grenzgebiete aller dieser Nachbarn annektiert hat, ist der Staat Polen bis Anfang 1939 für England das, was man heute als Schurkenstaat bezeichnet. Obwohl sich Deutschland und Polen bis 1938 angenähert haben, gibt es nach wie vor die drei deutsch-polnischen Probleme: 1. die Wahrung der Menschen-rechte der deutschen Minderheit in Polen, 2. den deutschen Wunsch, die Hansestadt Danzig wieder an Deutschland anzuschließen; schließlich fordert die zu 97% deutsche Bevölkerung der Stadt dies seit Jahren. Und Danzig ist Mandatsgebiet des Volkerbunds und mitnichten ein Teil des Staates Polen, aber die Sieger hatten den Polen in Danzig besondere Zoll-, Post-, Bahn- und Handelsrechte eingeräumt.

Das 3. Problem ist der deutsche Wunsch nach exterritorialen Verkehrswegen vom Reichs-gebiet in das seit 1918 abgetrennte Ostpreußen; die so genannte Korridor-Frage. Dieser deutsche Wunsch kommt nicht von ungefähr. Ostpreußen ist nach zwei Verträgen durch 8 Eisenbahnverbindungen über nun polnisches Gebiet mit Pommern und Schlesien verbunden. Nach den Verträgen sind die Transitgebühren in Zloty zu bezahlen, was zunächst keine Schwierigkeiten bereitet. Während und nach der Weltwirtschaftskrise nimmt Deutschland im Außenhandel jedoch nicht mehr genug Zloty ein. Um die Gebühren zu entrichten, überweisen die deutschen Behörden die an Zloty fehlende Beträge monatlich in Reichsmark. Doch Polen sieht darin einen Vertragsbruch, was es streng nach dem Vertragstext ja auch ist, und schließt zur Strafe ab 1936 eine Eisenbahnverbindung nach der anderen. 67% der Eisenbahntransporte jedoch dienen der Energieversorgung Ostpreußens. Sie fahren Kohle aus Oberschlesien für Industrie, Gewerbe, den Hausbrand und die Stromerzeugung in die abgeschnittene Provinz. Die Kohle ist zu jener Zeit der Energieträger, den heute Erdöl und Erdgas darstellen. Schließlich droht die polnische Seite einmal damit, bei weiterhin unvollständigen Zloty-Zahlungen auch die letzten Strecken zwischen Ostpreußen und dem Reichsgebiet zu schließen. Damit wäre Ostpreußen von seiner Energieversorgung abgeschnitten und dem wirtschaftlichen Ruin preisgegeben, wie zwei Jahrzehnte später beinahe die Stadt Berlin während der sowjetischen Blockade. So kommt im Reichswirtschaftsministerium die Idee auf, mit den Polen statt über Zloty-Zahlungen über exterritoriale Verkehrsverbindungen in deutscher Hoheit und Regie zu verhandeln.

Damit stehen 1939 die drei deutsch-polnischen Differenzen auf der Tagesordnung: das Los der deutschen Minderheit in Polen, die Transitwege nach Ostpreußen und die Zukunft der Stadt Danzig. Interessant ist, daß auch Politiker im Ausland die Brisanz der deutsch-polnischen Probleme sehen. Churchill warnt schon am 24. November 1932 – also noch vor der Wahl, die Hitler 1933 an die Macht bringt – das Oberhaus in London. Er sagt: “Wenn die englische Regierung wirklich wünscht, etwas für die Förderung des Friedens zu tun, dann sollte sie die Führung übernehmen und die Frage Danzigs und des Korridors ihrerseits wieder aufrollen, solange die Siegermächte noch überlegen sind. Wenn diese Fragen nicht gelöst werden, kann keine Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden bestehen.“ In Frankreich gibt es zu der Zeit vereinzelt ähnliche Ansichten. Doch nichts geschieht. Die Siegermächte hatten diese Ursachen für einen neuen Krieg in Versailles selbst geschaffen und sie dann nicht beseitigt, als dafür die Zeit längst reif war.

Hitler glaubt 1938 zwei Trümpfe für die Lösung dieser Probleme in der Hand zu haben. Der erste: die polnischen Regierungen hatten die 16 deutschen Reichsregierungen vor Hitler gebeten, ihre Gebietsgewinne in Posen, Westpreußen und Oberschlesien als endgültig anzuerkennen. Alle Regierungen der Weimarer Republik hatten das abgelehnt. Hitler bietet diese Anerkennung an. Der zweite Trumpf: Die Polen hatten 1938 bei der Annexion des tschechischen Industriegebiets von Teschen auch die schon erwähnte, überwiegend deutsch bewohnte Stadt Oderberg mit annektieren wollen. Das Auswärtige Amt in Berlin hatte Einspruch dagegen eingelegt. Doch hier schreitet Hitler ein und gesteht Oderberg den Polen zu. Sein Argument: „Wir können nicht um jede deutsche Stadt mit Polen streiten.“ Seine Hoffnung ist, daß Polen dafür der Wiedervereinigung der deutschen Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich zustimmen werde.

Nach der Annexion des Teschener Gebiets und Oderbergs durch Polen im September 1938 beginnt Hitler Oktober 1938 die Verhandlungen mit Polen um Danzig, die Transitwege und die Einhaltung der Menschenrechte für die Deutschen in Polen. Sein erstes Angebot ist die Anerkennung der polnischen Gebietserwerbungen seit 1918 und die Verlängerung des deutsch-polnischen Freundschaftsvertrags von 10 auf 25 Jahre. Im Januar 1939 legt Hitler noch einmal nach. Er schlägt vor: „Danzig kommt politisch zur deutschen Gemeinschaft und bleibt wirtschaftlich bei Polen.“ Eine faire Kompromisslösung, denn Danzig gehört ja bislang politisch auch nicht zu Polen, sondern zum Völkerbund. Bis in den März 1939 hinein gibt es bei den deutsch-polnischen Verhandlungen leichte Annäherungen, aber keinen Durchbruch.

Zu der Zeit ist Polen in Europa wegen seiner vielen Kriege seit 1920 und wegen der Teschen-Annexion vom vergangenen September noch geächtet. Ende März 1939 aber wendet sich das Blatt. Hitler begeht einen großen Fehler. Er erklärt die Tschechei – entgegen früher gegebener Versprechen – zum deutschen Protektorat und läßt sie besetzen. Nun brauchen die Briten Verbündete gegen Deutschland. Sie bieten den Polen einen Beistandspakt gegen Deutschland an. Polen wechselt seinen Partner und geht auf Englands Seite über. Obwohl die deutsch-polnischen Gespräche zunächst noch weiterlaufen, schließt Polen Ende März 1939 den Vertrag mit England, macht seine Truppen teilweise mobil, so daßdas Heer verdoppelt wird, stellt Korpsstäbe auf und läßt Truppen in Richtung Ostpreußen aufmarschieren. März 1939!

Hitler reagiert und gibt am 3. April 1939 der Wehrmachtsführung erstmals den Befehl, einen Angriff gegen Polen vorzubereiten, so daß er am 1. September beginnen kann. Nun herrscht Eiszeit zwischen Deutschland und Polen. Dennoch macht die deutsche Reichsregierung noch ein paar Anläufe weiterzuverhandeln. Doch die polnische Regierung erklärt nun, der Status des Freistaats Danzig beruhe nicht auf dem Vertrage von Versailles, sondern auf der jahrhundertelangen Zugehörigkeit Danzigs zu Polen. Und Posen und Westpreußen gehörten de jure und de facto längst zu Polen. Die angebotene deutsche Anerkennung sei keine Gegenleistung. Hitler bittet danach die englische Regierung, zwischen Deutschland und Polen zu vermitteln. In den letzten neun Tagen vor Kriegsbeginn laufen die Verhandlungsdrähte heiß. Die Verhandlungen gehen nun über den englischen Botschafter Henderson in Berlin und von dort über die englische Regierung nach Warschau und zurück, doch ohne daß es dabei eine Annäherung zwischen Berlin und Warschau gäbe. In die Verhandlungen zwischen Berlin und London wird außerdem ein Vermittler eingeschaltet, der schwedische Industrielle Dahlerus.

Am 30. August 1939 unternimmt die deutsche Reichsregierung nach neun Verhandlungstagen einen letzten von insgesamt sechs Versuchen. Sie macht der polnischen Regierung einen 16-Punkte-Vorschlag zur Lösung der deutsch-polnischen Probleme und verlangt, daß Polen noch bis Mitternacht des gleichen Tages einen bevollmächtigten Unterhändler zu Verhandlungen nach Berlin entsendet. Die wesentlichen Punkte dieses Vorschlags lauten: Die Bevölkerung im Korridor soll in einer Volksabstimmung unter internationaler Kontrolle selbst entscheiden, ob sie zu Polen oder zu Deutschland gehören will. Der Wahlverlierer bekommt exterritoriale Verkehrswege durch den Korridor. Bleibt der Korridor bei Polen, erhält Deutschland exterritoriale Verbindungen nach Ostpreußen. Kommt der Korridor an Deutschland, bekommt Polen exterritoriale Verbindungen an die Ostsee nach Gdingen. Der Hafen und die Stadt Gdingen bleiben – so der deutsche Vorschlag – unabhängig vom Wahlausgang bei Polen, und Polen behält seine Handelsprivilegien in Danzig. Das ist der letzte deutsche Vorschlag vor dem Krieg.

Was während dieser neun Verhandlungstage so erstaunt, ist daß Hitler den schon für den 23. August befohlenen Angriff der Wehrmacht gegen Polen noch dreimal verschieben läßt, obwohl der Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion bereits geschlossen ist, und Deutschland damit „Rückendeckung“ für die Eröffnung des Feldzugs gegen Polen hat. Doch Hitler läßt den Beginn des Angriffs – wie schon erwähnt – dreimal mit der Begründung verschieben, er brauche noch Zeit zum Verhandeln. Hätte Hitler ganz Polen erobern wollen, hätte er den Krieg nicht wegen der Verhandlungen um viel geringere Kriegsziele, nämlich Danzig und den deutsch bewohnten Teil des Korridors mehrmals verschoben.

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Die Zuspitzung um Danzig 1939

Ein Teil der früheren Provinz Westpreußen ist die Stadt Danzig als Hauptstadt der Provinz. Doch 1920 rückt sie gesondert in das Rampenlicht der Weltgeschichte. Die Hansestadt wird am 15. November 1920 nach dem Beschluß der Siegermächte ohne Volksabstimmung vom Deutschen Reich getrennt und „unter den Schutz des Völkerbunds gestellt“. Die Bürger Danzigs verlieren die deutsche Staatsbürgerschaft und sind nun Bürger eines neu gebildeten „Freistaats Danzig“. In Stadt und Umland leben zu der Zeit 340.000 Menschen. 97% der Bevölkerung sind bis dahin deutsch. Die Bevölkerung verlangt in den Jahren zwischen beiden Kriegen mehrmals eine Volksabstimmung über ihre Zugehörigkeit zum Deutschen Reich. Der Völkerbund lehnt alle Begehren in dieser Richtung ab.

Polen und Danzig

Auch Polen ist nicht mit dem Status Danzigs als Freistaat unter Völkerbunds-Herrschaft zufrieden. Während der Siegerkonferenz von Versailles hat die polnische Delegation gefordert, Danzig dem neuen Polen anzugliedern. Die Begründung wird hier wieder weitgehend aus einer frühen Zugehörigkeit der Stadt zu Polen abgeleitet.

Der Freistaat Danzig ab 1920

Artikel 104 des Versailler Vertrags bestimmt, daß Danzig fortan eine „Freie“ Stadt mit eigener, autonomer Verwaltung unter der Regie eines vom Völkerbund ernannten Hochkommissars sein soll. Die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten Danzigs obliegt nach dem Vertrag der polnischen Regierung. Die Interessen Danzigs im Ausland werden also in den nächsten 19 Jahren von Warschau aus vertreten und nicht mehr von Berlin. Nach Artikel 104 gehört Danzig von 1920 an außerdem zu Polens Zollgebiet. Die Danziger Wasserstraßen und der gesamte Hafen stehen den Polen ohne Einschränkung zur Benutzung zur Verfügung. Polen überwacht den Eisenbahn- und Wasserstraßenverkehr in Danzig und Umgebung. Die Post und Telefonverbindungen von Polen in den Hafen – allerdings nur diese – werden polnischen Behörden übertragen. Polens Einfluß auf den Freistaat ist damit klar begrenzt. Doch in den 19 Jahren bis 1939 versucht der Staat Polen, sich den Freistaat in einer Folge kleiner Schritte Zug um Zug einzuverleiben.

Polens Danzig-Politik

Polen dehnt das eigene Postnetz auf den ganzen Freistaat aus, obwohl der polnische Postdienst nach Versailler Vertrag ausschließlich für den Hafen vorgesehen ist. Es weigert sich, die Völkerbundwährung, den Danziger Gulden, auf Danziger Gebiet als Zahlungsmittel anzunehmen. Das polnische Militär legt gegen den ausdrücklichen Protest des Danziger Senats ein Munitionsdepot im Hafen an. Dann versucht es, die eigenen Truppen im Hafen zu verstärken, um – wie es heißt – das Depot zu schützen. Die Verstärkung der polnischen Soldaten im Hafen von Danzig scheitert allerdings am Einspruch des Völkerbunds. 1932 nutzt Polen einen englischen Flottenbesuch in Danzig, um eigene Kriegsschiffe dorthin zu verlegen. Als der Senat der Freistadt dagegen Einspruch einlegt, wird ihm mitgeteilt, daß „polnische Kriegsschiffe das nächste öffentliche Gebäude beschießen werden, falls die Danziger Bevölkerung die polnische Flagge auf den polnischen Schiffen beleidige“. Ab August 1932 beansprucht Polen dann generell das Recht zum Aufenthalt seiner Flotte im Danziger Hafen. So weitet sich der Zugriff Polens auf den Freistaat langsam aber unaufhörlich aus.

In Danzig steigt das Verlangen nach Anschluß an das Mutterland. In Deutschland glaubt man das Recht auf eigener Seite, als Hitler den Anschluß Danzigs und sichere Verkehrswege ins abgeschnittene Ostpreußen fordert. Und in Polen nehmen Wut und Haß gegen die „illoyalen“ Danziger Bürger zu.

Ab Juni 1939 mehren sich im Freistaat Danzig die gegenseitigen Beschuldigungen und Verdächtigungen zwischen der deutsch-Danziger Bevölkerung und den polnisch-Danziger Behörden. Polnische Militärtransporte fahren durch den Freistaat, ohne daß sie, wie es vereinbart ist, vorher beim deutschen Danziger Senat gemeldet werden. Die polnische Militärbesatzung auf der Westerplatte neben Danzigs Hafen wird auf 240 Soldaten verstärkt, obwohl der Völkerbund nur 88 zugelassen hat. Die polnischen Zöllner, ursprünglich sechs Beamte, sind inzwischen 110 geworden.

Der Zollinspektorenstreit 1939

Besonders kritisch wird im Sommer 1939 ein Zwist, der als der „Zollinspektorenstreit“ bekannt geworden ist. Ab Mai verschärfen sich Kontrollen und Verhalten der polnischen Zollbeamten gegenüber den Danzigern im kleinen Grenzverkehr, der für die Menschen dort in ihrer Insellage von besonderer Bedeutung ist. Die polnischen Zollbeamten maßen sich gegenüber ihren deutschen Kollegen Befehlsbefugnisse an, die sie so nicht haben, und die Zahl der polnischen Beamten wird wesentlich erhöht. Die deutsche Polizei behauptet, ein Teil der zusätzlichen Zollbeamten gehöre dem polnischen Nachrichtendienst an und werde auf diese Weise nach Danzig eingeschleust. Die deutschen Beamten arbeiten daraufhin mit den polnischen nicht mehr recht zusammen. Die wiederum verzögern die Ausfuhr Danziger Agrar- und Fischereiprodukte, die im heißen 39er Sommer besonders leicht verderben. In dieser angespannten Lage beschwert sich der Präsident des Danziger Senats Greiser beim polnischen Generalkommissar über die beschriebenen Vorfälle und kündigt an, daß deutsche Zollbeamte von den polnischen zu Zukunft keine Weisungen mehr entgegen nehmen werden. Der Generalkommissar Chodacki schickt dem Präsidenten Greiser als Antwort postwendend ein Ultimatum, diese Weisung bis 18 Uhr des gleichen Tags zurückzunehmen, andernfalls

„wird die polnische Regierung unverzüglich Vergeltung gegen die freie Stadt anwenden“.

Außerdem teilt Chodacki mit, daß der polnische Zoll ab sofort bewaffnet werde. Hitler, vom Senatspräsidenten um Rat gefragt, drängt, für Entspannung zu sorgen und „die Angelegenheit nicht noch mehr zu vergiften“. Es gelingt dem Präsidenten Greiser den Generalkommissar Chodacki zu bewegen, das Ultimatum aufzuheben.

Kriegsgefahr um Danzig

So belanglos dieser Zwischenfall auch scheint, er zeigt doch, wie nah die Welt am Rand des Krieges steht. Staatssekretär im Auswärtigen Amt von Weizsäcker übermittelt dem polnischen Geschäftsträger in Berlin die Mißbilligung der Reichsregierung zum Zollinspektorenstreit, zum Ultimatum und zur Drohung gegenüber der Danziger Bevölkerung. Der nimmt Rücksprache mit seinem Ministerium in Warschau und teilt von Weizsäcker tags darauf offiziell mit, daß Polen jede Einmischung der Reichsregierung in die polnisch-Danziger Beziehungen zu Lasten Polens als „Angriffshandlung“ betrachten werde. Das polnische Außenamt gibt damit zu verstehen, daß schon jedes Parteiergreifen der Reichsregierung zu Gunsten Danzigs und zu Lasten Polens Krieg bedeuten werde. Angesichts des unbedeutenden Zollstreits in Danzig ist das eine ganz massive Drohung, zumal England und Frankreich zugesichert hatten, Polen in jedem von Deutschland ausgelösten Krieg zu unterstützen.

Hitler zeigt sich über das polnische Ultimatum in dieser ohnehin so spannungsreichen Zeit empört, und er spricht davon, daß „die Grenze seiner Duldsamkeit erreicht ist“. Polens Presse gießt nun noch Öl ins Feuer, indem sie schreibt, Hitler habe im Zollstreit „klein beigegeben“ und eine einzige ein wenig schroffe Note habe genügt, „ihn in die Knie zu zwingen“.

Das ist drei Wochen vor dem Krieg. Das Chodacki-Ultimatum und Hitlers Reaktion darauf so kurz vor Kriegsbeginn lassen Rückschlüsse auf dessen Absichten in Bezug auf Polen zu. Wenn der „Führer“ wirklich Krieg mit Polen statt nur Danzig und die Transitwege hätte haben wollen, hätte er ihn jetzt leicht haben können. Er hätte dem Danziger Senat nur bedeuten müssen, im Zollinspektoren-Streit nicht nachzugeben. Polen wäre dann, wie angedroht, gegen den Freistaat vorgegangen. Danzig hätte als Reaktion darauf den Anschluß an das Deutsche Reich erklären können und Polen wäre – das ist sicher – militärisch gegen Danzig vorgegangen. Damit hätten die Polen und nicht die Deutschen den Krieg, der in der Luft liegt, ausgelöst. Wenn Hitler Anfang August 1939 unbedingt Krieg mit Polen hätte haben wollen, hätte er sich diese Chance kaum entgehen lassen. Er hätte Senatspräsident Greiser wohl nicht den Rat gegeben, „die Angelegenheit nicht noch mehr zu vergiften.“

Auf deutscher Seite werden die polnischen Ausschreitungen gegen Angehörige der deutschen Minderheit inzwischen durch Repressalien gegen Polen im Reichsgebiet vergolten. Den Ausweisungen von Deutschen dort folgen Ausweisungen von Polen hier. Das alles heizt die antideutsche Stimmung in Polen weiter an. Derweilen rumort es in Danzig, wenn auch auf eine andere Weise. Die deutsche Bevölkerung der Stadt fordert auf Großveranstaltungen mit der Parole „heim ins Reich“ den Anschluß an das Mutterland. Die SS-Heimwehr tritt im August zum ersten Male öffentlich mit einer Parade in den Straßen Danzigs auf.

Auch der August bringt keine Besserung der Lage. Das Deutsche Reich bleibt gegenüber Polen bei den bekannten Forderungen. Die Polen lehnen jede Einigung zu ihren Lasten in der Danzig- und der Transitwege-Frage ab. Engländer und Franzosen versuchen, die Russen gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, ehe Deutschland seinerseits die Russen für die kommenden Auseinandersetzung zur Neutralität verpflichtet. Derweil wird die Hintergrundmusik aus Danzig und aus Polen immer schriller.

Botschafter Hendersons Mäßigungsversuch

Am 16. August versucht Englands Botschafter Henderson noch einmal von Berlin aus zu Vernunft und Mäßigung zu raten. Er schickt Außenminister Halifax ein Telegramm:

„Ich würde persönlich empfehlen, der polnischen Regierung nahezulegen – und zwar sofort – ,ihren hiesigen Botschafter anzuweisen, irgendeinen diplomatischen Schritt zu unternehmen, was ihm über Göring ein leichtes sein sollte. … Lipski ist, trotz allem, was vorgefallen ist, hier immer noch „persona grata“. Die Polen könnten vorschlagen, zum Verhandlungsstand vor dem März zurückzukehren … um es zu ermöglichen, wieder in Gespräche einzusteigen.“

Zwei Telegramme am Folgetag von Halifax an Kennard in Warschau zeigen keine Reaktion auf Hendersons Empfehlung.

In der letzten Woche vor dem Kriegsausbruch versuchen polnische Flak-Batterien noch ein paar Mal, Passagiermaschinen der Deutschen Lufthansa auf ihrem Flug von Berlin nach Königsberg über der Ostsee abzuschießen. Es kommt zu zahlreichen Schießereien an den Grenzübergängen zwischen polnischen und deutschen Zollbeamten und Soldaten, wobei es viele Tote gibt. Das „Abfackeln“ deutscher Bauernhöfe im polnischen Grenzland geht unvermindert weiter. Die deutsch-polnische Grenze steht im August 1939 auch ohne Krieg in Flammen .

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