Die Aufrüstung in Europa und USA 1918-1939

Die Wiederaufrüstung der Reichswehr nach Hitlers Amtsantritt in den Jahren 1933 bis 1939 gilt landläufig als der schlagende Beweis für dessen Kriegsabsichten und Eroberungspläne. Wer allerdings aus der Rüstung eines Staates auf dessen außenpolitische Ambitionen schließen will, muß die Menge und die Qualität der Streitkräfte dieses Staates mit denen seiner Nachbar- oder Gegnerstaaten vergleichen. Einer Regierung – so eine einfache Faustformel – , die anstrebt, etwa dreimal so viele Truppen aufzustellen, wie ihre Nachbarstaaten, kann man unterstellen, daß sie Angriffsabsichten hegt. Von einer Regierung, die sich mit etwa einem Drittel der Truppen ihrer Nachbarstaaten begnügt, oder mit einem Drittel der Streitkräfte ihres stärksten Nachbarstaates, kann man annehmen, daß sie nur rüstet, um sich notfalls mit Aussicht auf Erfolg gegen Angriffe anderer Staaten zu verteidigen.

Die Rüstung 1933

Wie sah denn das Stärkeverhältnis der Reichswehr im Vergleich zu den Streitkräften Frankreichs und der mit Frankreich gegen Deutschland verbündeten Nachbarstaaten aus? Wenn man diese Rechnung für 1933 aufmacht und dabei Großbritannien und die Sowjetunion nicht mit einbezieht, – weil sie keine unmittelbaren Nachbarn sind- ergibt der Vergleich der Landstreitkräfte eine Überlegenheit des Auslands gegenüber Deutschland an aktiven Friedens-Heeresdivisionen von 1:12. Den 100.000 Mann im deutschen Heer stehen gegenüber:

655.000 Franzosen

66.000 Belgier

298.000 Polen

140.000 Tschechen und

32.000 Litauer

Hinzu kommen als weiteres Risiko für Deutschland – wenn auch erst in der zweiten Reihe – 885.000 sowjetische Soldaten.

Erschwerend kommt aus deutscher Sicht hinzu, daß Deutschland infolge des Versailler Verbots seit 15 Jahren ohne Wehrpflicht keine Reservekräfte unterhält. Die Nachbarstaaten verfügen allesamt über Waffen und Reservisten, mit denen bei Mobilmachung die Heere für den Kriegsfall vergrößert werden können. Den deutschen 100.000 Mann stünden im „K-Fall“ gegenüber

4,5 Millionen Franzosen

3,2 Millionen Polen

1,3 Millionen Tschechen

0,6 Millionen Belgier

0,15 Millionen Litauer.

So ergibt sich für den Kriegsfall eine Überlegenheit der Nachbarstaaten gegenüber Deutschland von 1:97.

Ein Vergleich der Luftstreitkräfte führt noch in ganz andere Dimensionen. Alle Nachbarn haben ihre Luftwaffen nach dem Ersten Weltkrieg weiter beibehalten. Nur Deutschland darf keine Luftstreitkräfte unterhalten und besitzt außer wenigen Schul- und Kurierflugzeugen nichts. Zum Jahreswechsel 1932 – 33, ehe Hitler deutscher Kanzler ist, wird die Aufrüstung der vielen Luftarmeen in Europa noch von der französische-italienischen Rivalität rund um das Mittelmeer, von Frankreichs allgemeiner Furcht vor Deutschland und von Englands Angst vor Frankreichs Bomberflotte angetrieben. Die Flugzeugbestände der Luftarmeen zu der Zeit betragen etwa:

  • in den USA 3.100 Militärflugzeuge
  • in Frankreich 3.000
  • in Großbritannien 1.800
  • in Italien 1.700
  • in der Sowjetunion 1.700
  • in Polen 700
  • in der Tschechoslowakei 670
  • in Belgien 350
  • in Deutschland 70

Der Vergleich der Kriegsmarinen muß – der Natur der Seestreitkräfte folgend – alle verbündeten und gegnerischen Seestreitkräfte einbeziehen, also nicht nur die der Nachbarstaaten. Hier zeigt sich, daß die Reichsmarine 1933 den Kriegsmarinen der Staaten, die den Versailler Vertrag als Gegner Deutschlands unterschreiben, 1:30 unterlegen ist.

Die wehrpsychologische Lage ist in Deutschland bei Hitlers Amtsantritt noch immer von zwei Erfahrungen der jüngsten Nachkriegszeit geprägt. Zum ersten ist noch nicht vergessen, daß in den 20er Jahren französische, belgische und litauische Truppen und auch polnische Truppen und Milizen trotz des in Versailles geschlossenen Friedens wiederholte Male in Deutschland eingefallen sind und zeitweise oder auf Dauer deutsche Grenzregionen annektiert haben, ohne daß die kleine Reichswehr mit ihren nur 100.000 Soldaten dieses hat verhindern können. Zum zweiten ist allen politisch interessierten Deutschen noch präsent, daß die Siegermächte von 1918 ihre eigenen Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag nicht eingehalten haben.

Das Abrüstungsgebot von Versailles

In Versailles ist im Vertrag vereinbart worden, daß sowohl die Sieger als auch die Besiegten ihre Truppen auf das erforderliche Mindestmaß zu reduzieren hätten. Der Vertrag sieht vor, daß Deutschland als erster Staat abrüstet, und daß die anderen Staaten danach folgen werden. Deutschland erfüllt seine Pflicht bis 1927 und baut die Reichswehr auf 100.000 Mann im Heer und 15.000 Mann in der Marine ab. Die Luftstreitkräfte werden gänzlich aufgelöst. Nun wären die Sieger an der Reihe gewesen, ihre, im Versailler Vertrag festgeschriebenen Abrüstungszusagen gleichfalls einzulösen. Der Völkerbund stellt 1927 zwar formal den Vollzug der deutschen Truppen- und Waffenreduzierung fest, aber die darauf folgende Genfer Abrüstungskonferenz von 1932-1934 führt zu keiner nennenswerten Abrüstung der Siegerstaaten aus dem Ersten Weltkrieg.

In Wahrheit denken England, Frankreich und die USA nicht daran – wie vereinbart – abzurüsten. Sie behalten umfangreiche Streitkräfte bei: Frankreich besonders Land- und Luftstreitkräfte, und die USA und England besonders Seestreitkräfte. Und sie investieren erhebliche Finanzen in die Modernisierung ihrer Waffenarsenale. Anfragen aus Deutschland, das eigene Heer wenigstens in einen verteidigungsfähigen Zustand versetzen zu dürfen, hingegen werden von den Siegerstaaten abgewiesen. So wird die Wiederaufrüstung in Deutschland ab 1933 für die deutschen Bürger durch die jüngsten Angriffe von vier Nachbarländern, durch die offenkundig fehlende Fähigkeit zur Selbstverteidigung und durch die Vertragsbrüche der Siegermächte augenfällig legitimiert.

Schon die letzten zwei Regierungen vor Hitler beschließen, die Rüstungsbegrenzungen von Versailles zu umgehen, und Deutschland mit Maßen wieder aufzurüsten. Als Hitler an die Macht kommt, zeigt sich sofort die Notwendigkeit der Wiederaufrüstung. Der polnische Regierungschef schlägt der französischen Regierung 1933 vor, Deutschland von zwei Seiten anzugreifen, was Frankreich ablehnt, doch was die Reichsregierung bald erfährt. Polen besitzt zu dieser Zeit mit seinem 298.000-Mann-Heer immerhin noch dreimal so viel Soldaten wie Deutschland mit seinem 100.000-Mann-Heer

Deutsche Abrüstungsvorschläge 1933-1935

Nach 1933 unterbreitet die deutsche Reichsregierung bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen sechsmal den Vorschlag, bestimmte Waffenkategorien wie Bomber, Artilleriegeschütze und andere Waffen für alle Staaten mengenmäßig zu begrenzen. Als das scheitert, lässt Hitler die kleine Reichswehr zu einer starken und modernen Wehrmacht ausbauen. Das einzige Ergebnis dieser Rüstungsbegrenzungsversuche ist der deutsch-britische Flottenvertrag von 1939, der Deutschlands Seestreitkräfte bei 35% der englischen begrenzt. Damit ist einerseits das Versailler Limit für die Reichsmarine aufgehoben, andererseits ist die britische Überlegenheit zur See gewahrt.

Der Rüstungswettlauf der Seestreitkräfte ab 1933

Zunächst der Blick auf das, was sich weltweit bewegt.

1932 ist der im Washingtoner-Flottenabkommen festgelegte 10-Jahres-Baustopp für Großkampfschiffe abgelaufen, in dem sich das Schwergewicht des Marinerüstens aller Staaten auf die Modernisierung der leichten Seestreitkräfte umgeschichtet hatte. Ab 1932 beginnen die großen Seemächte, wieder Schlachtschiffe, Flugzeugträger und Kreuzer auf Kiel zu legen und zu bauen. 1933 legt der neu ins Amt gekommene US-Präsident Roosevelt ein großes Kriegsflotten-Bauprogramm auf. Schon 1931 beginnen Frankreich und England neue Großkampfschiffe und Flugzeugträger auf Kiel zu legen. Deutschland erweitert und erneuert seine Flotte nach dem „1. Umbauplan“ vom Oktober 1932. Nach der Konferenz von München und dem Anschluß der Sudetenlande an das Deutsche Reich verschlechtert sich die deutsch-englische Verhältnis, und beide Staaten treten in einen neuen Rüstungswettlauf der Marinen ein. So entsteht auf deutscher Seite im Winter 1938-39 unter dem Großadmiral Raeder der sogenannte Z-Plan, der die Endausbau-Planung für die deutsche Kriegsmarine für das Zieljahr 1945 um den Faktor 3 vergrößert. Doch es fehlt dem Deutschen Reich an Werften, Stahl und Geld. Anfang 1939 steht das Stärkeverhältnis zwischen der deutschen Flotte und denen Frankreichs und Englands ist damit noch immer bei 1 zu 2 zu 6.

Die Zahl der großen Kampfschiffe beträgt am 1. September 1939

Schiffsklasse GB USA F D
Schlachtschiff 15 15 7 5
Flugzeugträger 7 5 1
schwere Kreuzer 17 18 7 1
leichte Kreuzer 48 18 12 6
Zerstörer 183 214 58 21
Summe pro Flotte 270 270 85 33

Nur an Zahl der Untersee-Boote hat die deutsche Kriegsmarine zur Royal Navy aufgeschlossen.

Zahl der Untersee-Boote am 1. September 1939

Schiffsklasse SowjU USA F GB D
U-Boote 165 95 77 57 57

Der Rüstungswettlauf der Luftwaffen ab 1933

In Deutschland, das zu der Zeit weder mit Heeres- noch mit Marinekräften in der Lage wäre, sich notfalls selbst zu schützen, wächst die Erkenntnis, daß Luftstreitkräfte und vor allem Bomber ein probates Mittel wären, fremde Staaten von Übergriffen abzuschrecken, wie sie Deutschland in den letzten 15 Jahren mehrfach wehrlos hat erdulden müssen. Bomber sind – anders als Jagdflugzeuge – das offensive Luftkriegsmittel, den Feind im eigenen Lande zu bedrohen. Und Flugzeuge – so eine weitere Überlegung – lassen sich als Abschreckungs-waffen gegenüber den zwei potentiellen Gegnern Frankreich und Polen schneller und mit erheblich weniger Rohstoffaufwand bauen als Schlachtschiffe für die Flotte oder schwere Artillerie und Panzer für das Heer. So gewinnt der Aufbau von Luftstreitkräften vorüber-gehend eine besondere Bedeutung für die Sicherheit des Reichs. So wird zügig und mit Nachdruck die neue Luftwaffe für die Wehrmacht aufgebaut.

Fast zeitgleich läuft die Luftrüstung anderer Länder in Europa. Seit 1930 werden in der Sowjetunion jährlich etwa 860 Militärflugzeuge gebaut und ab 1935 3.500. Frankreich und England rüsten ihre Luftwaffen seit den 20er Jahren gegeneinander. 1932 und 34 erweitert England seine Royal Air Force. 1935 bauen die USA ihre ersten viermotorigen Langstrecken-bomber.

Bei Kriegsausbruch ist Deutschland zwar schon zweite Luftmacht hinter Rußland, doch es ist den drei Gegnern England, Frankreich, Polen zusammen noch erheblich unterlegen. Am 1. September 1939 verfügen die europäischen Staaten über die folgende Zahlen an sogenannten Frontflugzeugen

Sowjetunion über 5.000

Deutschland 4.033

England 3.600

Frankreich 2.550

Polen 800

Rüstungswettlauf der Landstreitkräfte ab 1933

Um an die Vorgeschichte anzuschließen sei erwähnt, daß Reichskanzler von Papen im Oktober 1932 nach sechs ergebnislosen Jahren bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen beschließt, die Reichswehr notfalls ohne Einigung mit den Siegermächten zu vergrößern und daß im November 32 der 2. Rüstungsplan der Reichswehr bereits vorsieht, das deutsche Friedensheer auf 175.000 Soldaten zu erweitern und daß im Dezember 32 die Siegermächte im Völkerbund beschließen, dem Deutschen Reich in Rüstungsfragen die prinzipielle Gleichheit einzuräumen. Kurz darauf treten mit Adolf Hitler und Franklin Delano Roosevelt zwei Politiker ins Rampenlicht der Weltgeschichte, die sich in zwei Punkten gleichen: beide müssen die hohe Arbeitslosigkeit in ihren Ländern beseitigen, und beide sind gewillt, ihre außenpolitischen Vorstellungen – wenn es denn sein muß – mit Kriegen durchzusetzen. Beide haben einen Hang zu Waffen. Beide Politiker beginnen sofort nach Amtsantritt damit, ihre Länder aufzurüsten: Adolf Hitler landmachtorientiert mit Vorrang für das deutsche Heer, und Roosevelt seemachtorientiert – wie schon erwähnt – die amerikanische Marine.

Deutschland ist 1933 noch immer von Militärbündnissen Frankreichs, Polens, Belgiens und der Tschechoslowakei eingekreist. Die Deutsche Reichsregierung versucht deshalb noch ein paar mal sich gemeinsam mit Frankreich und England auf dem Verhandlungswege auf Heeresstärken-Obergrenzen zu einigen. Doch die französische Regierung lehnt das ab. So beginnt Deutschland im Alleingang, seine Reichswehr erst auf 36, dann auf 40 und schließlich auf 51 aktive Heeresdivisionen aufzurüsten. Daneben entsteht – wie in allen Nachbarstaaten – ein Reserveheer. Für die Wehrmacht sind das 51 Landwehr-, Sicherungs-, Ersatz- und Reserve-Infanteriedivisionen

Der rasante Aufbau des 102-Divisionen-Heeres läßt sich in zwei Phasen unterteilen. Zuerst entsteht bis 1936 unter dem enormen Rüstungsvorsprung aller Nachbarländer und bei dem Eindruck der Bedrohung, die die französisch-belgisch-polnisch-tschechische Umklammerung im deutschen Volk erweckt, ein aktives Heer mit 40 Divisionen, das in der Lage ist, das Reich mit einiger Aussicht auf Erfolg zu schützen. Ab 1937 wird das aktive Heer in den drei Jahren bis zum Krieg nur noch durch 5 weitere deutsche und sudetendeutsche sowie 6 österreichischen Divisionen aufgestockt.

Mit einer Streitmacht von 51 aktiven Divisionen und 51 Reservedivisionen, wenn sie voll ausgerüstet und mobilgemacht sind, hat Deutschland eine Angriffsfähigkeit erlangt, der kein Nachbarstaat allein- ausgenommen Frankreich – widerstehen kann. Andererseits sind diese 102 Divisionen auch nur die Truppenstärke, die Deutschland notfalls bräuchte, um sich gegen eine gegnerische Allianz wie im Ersten Weltkrieg zu verteidigen.

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