Das Osmanische Reich als Wirtschaftsraum für Deutschland
Deutschland tritt auch im Nahen Osten als neuer Konkurrent für England auf; zunächst im Handel und ein paar Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs auch bei dem Versuch, die frisch entdeckten Erdölquellen des damals noch osmanischen Irak zu nutzen. Ab 1888 , schon zehn Jahre bevor das englische Interesse für die Golf-Region erwacht, bemühen sich deutsche Industrielle und Bankiers, das Osmanische Reich als Wirtschaftsraum für Deutschland zu erschließen. Die deutschen Aktivitäten in dieser Richtung – zunächst ohne weitere außenpolitische Bedeutung – werden zu einem Tanz auf dem Vulkan, sobald man zwischen Mossul und Kuwait Erdöl entdeckt.
Bis zur Jahrhundertwende um 1900 fördern nur die USA, Mexiko und Rußland Erdöl in nennenswerten Mengen. Die neue Energie verändert schnell die Technik. Ab 1870 schon gibt es Schiffe, die mit Erdölfeuerung statt mit Kohle fahren, wodurch sich der Aktionsradius solcher Schiffe vervierfacht, was für die Handelsflotten und die Kriegsmarinen ein epochaler Fortschritt ist. Als 1883 der Benzinmotor und 1893 der Dieselantrieb erfunden werden, bekommt der Besitz von Erdölquellen endgültig wirtschafts- und gegebenenfalls auch kriegsentscheidende Bedeutung.
Das britische Protektorat Kuwait
Die Seemacht England – um das Jahr 1900 noch ohne eigene Erdölquellen – bemüht sich zu der Zeit, im damals osmanischen Irak und in Persien Fuß zu fassen und sich die dort gerade erst entdeckten Erdölvorkommen zu sichern. 1899 schließen die Briten mit dem Scheich von Kuwait einen Vertrag, in dem der verspricht, daß weder er noch seine Erben jemals Verträge über die Niederlassung dritter Mächte in Kuwait unterzeichnen werden. 1901 entsendet London Kriegsschiffe nach Kuwait und zwingt die osmanische Regierung, zu deren Reich Kuwait gehört, ein britisches „Protektorat“ über das Scheichtum Kuwait zu akzeptieren. 1913 läßt sich England außerdem die dortigen Erdölförderkonzessionen gegen Geldgeschenke vom Scheich von Kuwait übertragen. Im selben Jahr kauft die Londoner Regierung die Aktien-mehrheit an der persischen Erdölgesellschaft. Als Folge der Erwerbungen in Persien und des „Protektorats“ über das damals noch osmanische Kuwait betrachtet England die Golf-Region schon bald nach der Jahrhundertwende als seine wesentliche Einfluß- und Interessensphäre.
Die Anatolische Eisenbahn
Zehn Jahre bevor die Briten Kuwait für sich entdecken – nämlich 1889 – beginnen deutsche Unternehmer und Bankiers ein wirtschaftliches Großprojekt in gleicher Richtung, den Bau der Eisenbahn von Istanbul nach Ankara. Die deutsch-türkische Zusammenarbeit trägt Früchte, und 1890 schließen die deutsche und die osmanische Regierung einen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag, der drei Jahre später dazu führt, daß der osmanische Sultan Abdul Hamid II. der Deutschen Bank anbietet, eine weitere Strecke von Eskischehir nach Konya zu bauen. 1896 ist die Bahn bis Konya fertig. Noch ahnt niemand, daß sie in eine Richtung läuft, in der in Kürze Öl gefunden wird. 1898 bietet Abdul Hamid II. Kaiser Wilhelm II. an, daß deutsche Firmen die Bahn von Konya über Bagdad bis Basra und an den Persischen Golf ausbauen. Als 1903 jedoch der Bau der Bagdadbahn beginnt, sitzen die Briten schon zwei Jahre mit Militär und Ölfachleuten in Kuwait, nur 100 Kilometer südlich von Basra, wohin die deutsche Bahn nach Fertigstellung führen soll.
Die Finanzierung der Bagdad-Bahn
Die deutsche Reichsregierung sieht bereits sehr früh, daß das Bagdadbahn-Projekt ohne die Billigung der Regierungen in London und Paris zu Schwierigkeiten führen wird. Die Deutsche Bank weiß außerdem, daß die Bahn ohne englische und französische Kapitalbeteiligung so gut wie nicht zu finanzieren ist. So reist Kaiser Wilhelm II. schon 1899 zu seiner Großmutter Queen Victoria nach London, um sie zu bitten, daß sich Londons Banken am Bau der Bahn beteiligen. Auch die Deutsche Bank versucht, Kapital in Paris und London aufzutreiben. Es gibt jedoch in Frankreich nur ein geringes und in England gar kein Echo. Der englische Premierminister Lord Balfour sagt zwar zunächst die britische Beteiligung zu, doch er muß sie später widerrufen, weil das Unterhaus und Englands Presse den Bau der Bahn aufs Schärfste kritisieren. So bleiben die Mitfinanzierungen aus London und Paris gering. Statt dessen gibt es 1903 in Englands Presse eine äußerst heftige Kampagne gegen das deutsch-osmanische Projekt, die Bahn nach Bagdad, die letztendlich bis zum Golf von Persien führen soll.
Erdölkonzessionen entlang der Bagdadbahn
Die Trasse der Bagdadbahn führt über die Stadt Mossul, um die herum man um die Jahrhundertwende reichlich Öl entdeckt. 1912 überschreibt die türkische Regierung der Deutschen Bank die Konzessionen für alle Erdöl- und Mineralvorkommen 20 Kilometer beiderseits der Bahn bis Mossul als Kompensation für ihre Kosten beim Bau der Eisenbahn. So eröffnet sich für Deutschland mit der Bagdadbahn nicht nur die Erschließung eines neuen Marktes, sondern auch die Aussicht auf ein reiches Erdölfeld zur eigenen Verfügung, was für seine industrielle und wirtschaftliche Entwicklung ausgesprochen wichtig ist.
Deutsch-englische Rivalität im Zweistromland
Deutschland ist im Begriff, sich mit der neuen Eisenbahn nach Bagdad und in die anatolische Türkei auch den Irak als Wirtschaftsraum zu öffnen. Das Mittel dazu, die alten Karawanen-routen zu modernen und leistungsfähigen Transportwegen auszubauen, bindet den Nahen Osten an Europa an. Was hier so positiv erscheint, hat jedoch zwei negative Seiten. Zum einen entwertet Deutschland damit Großbritanniens alten Seeweg in den Golf von Persien und das Transportmonopol, das England und die Niederlande bislang mit ihren Handelsflotten dorthin innehaben. Zum zweiten würde die Bahn, wenn sie bis Basra und an den Schat el Arab fertig würde, den Deutschen einen Festpunkt an Englands Seeweg vom Mutterland nach Indien bieten. Damit würde sich das Deutsche Reich dem Lebensnerv des kolonialen Weltreichs Großbritanniens nähern.
Daß dies in England Argwohn weckt, kann man in einer als Buch ( „The Serbs“ ) veröffentlichten Vortragsreihe des englischen Historikers Professor Laffan lesen, mit der dieser im Jahre 1917 die Offiziere des Britischen Beratercorps in Serbien über den strategischen Hintergrund ihrer Mission auf dem Balkan im Ersten Weltkrieg unterrichtet. Laffan sagt und schreibt:
„Deutschlands … Grundidee war, ein eine Kette von verbündeten Staaten unter deutscher Vorherrschaft zu errichten, die sich von der Nordsee bis zum Golf von Persien erstreckt… Würde die Bahn Berlin-Bagdad fertiggestellt, wäre eine riesige Landmasse unter deutscher Herrschaft vereinigt worden, in der jeder erdenkliche wirtschaftliche Reichtum hergestellt werden könnte, die aber für eine Seemacht unangreifbar wäre. … Die deutsche und die türkische Armee könnten leicht auf Schussweite an unsere Interessen in Ägypten herankommen und vom persischen Golf aus würde unser indisches Empire bedroht.“ …: „Ein Blick auf die Weltkarte zeigt, aus welchen Gliedern sich die Kette der Staaten zusammensetzt, die zwischen Berlin und Bagdad liegen: das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei. Nur ein kleiner Gebietsstreifen verhindete, daß die beiden Enden der Kette miteinander verbunden werden konnten. Dieser kleine Streifen ist Serbien. Serbien war in der Tat die erste Verteidigungslinie für unsere Besitzungen im Osten. …“
So zieht sich ein roter Faden von der Bagdadbahn zum Ersten Weltkrieg.