Die Geschichte des Memellandes
Im 12. und 13. Jahrhundert missionieren und erobern der Livländische Schwertbrüderorden von Norden und der Deutsche Orden von Süden die baltischen Gebiete entlang der Ostseeküste. Die dort ansässigen Kuren und die deutschen Eroberer vermischen sich. Das Kurische als Sprache dieses Landstrichs stirbt dabei langsam aus. So wird das Memelgebiet schon um das Jahr 1200 deutsch. Die Litauer siedeln zu der Zeit noch weiter östlich hinter dem Siedlungsgebiet der benachbarten Szamaiten als übernächste Nachbarn.
1252 gründen deutsche Ordensbrüder dort, wo die Danje in die Ostsee mündet, an einer Stelle, die auf Kurisch „Klajs peda“ ( deutsch: flache Stelle ) heißt, ihre erste Burg und unmittelbar daneben eine deutsche Siedlung. Daß die „Memelburg“ der Ordensritter die erste Burg an diesem Platze war, ist daraus zu schließen, daß die Kuren ihre Burgen auf den Höhen bauten und nicht wie Klajs peda an einer flachen Stelle in der Niederung am Meer. So weist der heutige litauische Name Klaipeda für die früher deutsche Stadt Memel auf den kurischen Namen einer deutschen Burg hin und nicht auf eine frühere litauische Siedlung.
Ein Weiteres verdient erwähnt zu werden. Schon zur Zeit der ersten deutschen Besiedlung wandern getaufte Litauer – wenn auch in geringen Zahlen – von Osten in das Ordensland. Sie sind im damals noch heidnischen Litauen der Verfolgung ausgesetzt und suchen Schutz beim Orden. Drei Jahrhunderte danach, nach der Reformation und der Umwandlung Ostpreußens und des Memellands von einem geistlichen Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum, werden diese so genannten Kleinlitauer zusammen mit ihren deutschen Nachbarn Protestanten. Sie behalten zwar die Muttersprache, doch entwickeln sie einen eigenen litauischen Dialekt und eine deutsch-litauische Zweisprachigkeit in ihrer Alltagspraxis. Zu Ende des Ersten Weltkriegs stellen diese Kleinlitauer im Memelland 48% der ansässigen Bevölkerung. Trotz der Bezeichnung und trotz der Muttersprache fühlt sich die Mehrheit der Kleinlitauer zum deutschen Kulturkreis und zum Deutschen Reich gehörig. Bei der Memeler Volksbefragung nach den „Familiensprachen“ im Jahre 1922 bekennen sich 71.156 Memelländer zur deutschen Sprache und 67.259 zur litauischen Sprache, doch nur 2,2% der Kleinlitauer wünschen, den Lese- und Rechtschreibunterricht in den Schulen von Deutsch auf Litauisch zu wechseln. Deutsch ist inzwischen ihre zweite angestammte Sprache. Soweit zur Vorgeschichte des Memellandes.
Versailles und das Memelland
Der Landzipfel zwischen dem Fluß Memel im Süden und dem Ort Nimmersatt im Norden, der den Staat Litauen nach der geographischen Gegebenheit so ideal ergänzt, ist vor 1923 niemals litauisch gewesen. 1919 in Versailles beanspruchen die zwei Staaten Polen und Litauen das Memelland für sich. Beide sehen im Zusammenbruch des besiegten Deutschen Reichs die Chance, ihre neu formierten Länder zu Lasten Deutschlands „aufzurunden“. Die Polen wollen ganz Litauen samt Memelland für sich, die Litauer das Memelland mit der Stadt und dem Hafen Memel als Tor zur nahen Ostsee. Die alliierten Siegermächte erfüllen weder Polens noch Litauens „Ansprüche“ auf das Memelland. Auch die deutschen Versuche, das Memelland zu halten, werden von den Siegermächten abgewehrt. Drei Vorstöße der Deutschen Reichsregierung und der memelländischen Volksvertretung im Mai, im August und im September 1919 werden mit der Begründung abgelehnt, das Memelgebiet sei nach dem Versailler Vertrag nicht mehr Teil des Deutschen Reichs, und man könne deshalb mit Deutschland in dieser Sache nicht verhandeln. Das Memelland wird 1919 von den Siegermächten von Deutschland abgetrennt und als Völkerbundsmandat unter französische Verwaltung gestellt und dann 1923 völkerrechtswidrig von Litauen annektiert.
Die Annexion des Memellandes 1923 durch Litauen
Vom 10. Januar 1923 dringen 5 bis 6.000 litauische Freischärler und zivil gekleidete Soldaten in das Memelgebiet ein und vertreiben die 200 französischen Soldaten, die bis dahin das Memelland kontrollieren. Die Ständige Botschafterkonferenz der Siegermächte legt Protest ein, doch Litauen weigert sich, das Memelland herauszugeben. Die Siegerstaaten geben nach und übertragen am 16. Februar 1923 die Souveränität über das Memelgebiet an Litauen. Damit haben die Siegermächten den Versailler Vertrag ein weiteres Mal gebrochen. Sie setzen allerdings den Abschluß einer „Memelkonvention“ durch, die am 8. Mai 1924 im Namen des Völkerbunds mit Litauen geschlossen wird. Mit dieser Konvention wird Litauen auferlegt, den Memelländern eine weitgehende Autonomie in ihrem neuen Staate einzuräumen. Zur Memelkonvention gehört als Anhang das „Memelstatut“ , die Verfassung für das übertragene Gebiet.
Das Memelland unter dem Memelstatut
Die litauische Regierung ist fortan durch einen Gouverneur im Memelland vertreten. Das Land regiert sich durch ein Direktorium selbst. Die Gesetze erlässt der Memeler Landtag . Die Memelländer werden, ohne daß man sie dazu befragt hat, Litauer. Die Wahl des ersten Memeler Landtags am 29.Oktober 1925 erbringt 94% der Stimmen für die Parteien der deutschen Einheitsfront und 6% für die litauischen Parteien. Der litauische Gouverneur in Memel verweigert der deutschen 94%-Mehrheit das Recht, den Regierungschef im Direktorium zu stellen. Er setzt statt dessen einen Litauer als Chef des Memeler Direktoriums ein. Eine Beschwerde des Landtags beim Völkerbund hierzu bleibt ohne Wirkung.
Die Folgejahre bleiben für die memelländische Bevölkerung und die Litauer eine Zeit der unerfreulichen Auseinandersetzungen. Die Litauer werfen den Memelländern mangelnden Integrationswillen und Illoyalitäten vor. Die Memelländer ihrerseits beklagen eine nicht endende Kette von Verstößen der Litauer gegen die Memelkonvention. Es gibt Streit über die Benutzung des Deutschen als Schul- und zweite Amtssprache, über die Verwaltung des Memeler Hafens, über die staatliche Finanzausstattung des autonomen Memelgebiets, über die vom Staat zu leistenden Pensionszahlungen, über litauische Gerichtsurteile ohne Verfahren und Anhörung, über die konventionswidrigen Anwendungen des Kriegsrechts, über die wiederholte Absetzung des deutsch-memelländischen Chefs des Direktoriums, über die Pressezensur, über die Verhaftung von Landtagsabgeordneten, über die ständige Blockierung von Landtagsgesetzen durch den litauischen Gouverneur und so weiter und so fort.
Die 11 Klagepunkte
Im Laufe des Jahres 1935 bemüht sich Litauen um einen Nichtangriffspakt mit Deutschland. Reich zu schließen. Die Reichsregierung lehnt das mit Hinweis auf die zu oft verletzte Memelkonvention ab. Im März 1938 verlangt die deutsche Regierung von der litauischen in einer Note, die Konvention ohne Abstrich einzuhalten. Die Note besteht aus “11 Klagepunkten” von denen die Reichsregierung fordert, sie alsbald abzustellen. Die Klagepunkte sind: Der Kriegszustand im Memelgebiet seit 1926, die Beschränkungen der Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit, Verhaftungen durch den litauischen Kriegskommandanten und die litauische Politische Polizei, die weitgehende Lahmlegung der gesetzgeberischen Tätigkeiten des Memeler Landtags durch das häufige Veto des litauischen Gouverneurs im Gegensatz zu den Bestimmungen der Konvention, unangemessen umfangreiche Enteignungen von Memeldeutschen im Memeler Stadtgebiet im September 1937, Druck auf die Betriebe, deutsche durch litauische Arbeitskräfte zu ersetzen und so weiter. Bemerkenswert bei der Note der “11 Klagepunkte” ist, daß die Reichsregierung mit keiner Silbe das Verlangen äußert, das Memelland an Deutschland abzutreten.
Hitler faßt eine militärische Lösung des Problems allerdings schon im Oktober 1938 als Möglichkeit ins Auge. Am 21. Oktober gibt er der Wehrmacht die lapidare Weisung,
„Die Wehrmacht muß jederzeit darauf vorbereitet sein, das Memelland in Besitz zu nehmen“.
Konkrete Pläne und Befehle folgen daraus jedoch zunächst noch nicht.
Die ersten deutsch-litauischen Verhandlungen 1938
Nachdem Österreich und die Sudetenlande 1938 an Deutschland angeschlossen worden waren, fordern auch die Memelländer ihre Rückkehr in ihr deutschen Mutterland. Als sich die litauische Regierung ihren Herrschaftsanspruch über das Memelland von Frankreich und von England garantieren lassen will, winken beide Mächte ab. Als Konsequenz dieser außenpolitischen Lage beginnt die litauische Regierung nun, bei der deutschen zu sondieren. Der litauische Gesandte Šaulys trägt am 31. Oktober in Berlin den Wunsch vor, die deutsch-litauischen Beziehungen neu zu gestalten, und er bittet um eine Erklärung der deutschen Seite zur Unverletzbarkeit des litauischen Staatsgebiets. Das kommt dem Wunsch gleich, daß Deutschland endgültig auf das Memelland verzichtet. Die Reichsregierung verlangt jedoch vor weiteren Gesprächen erst einmal die völlige Einhaltung der Autonomie fürs Memelland. Inzwischen ist der Verdruß der Memelländer über ihre litauische Herrschaft allerdings zu groß geworden, als daß sie noch mit der Autonomie hätte befriedigt werden können. Ab November 1938 kommt es im Memelland zu prodeutschen Aufmärschen und Fackelzügen und zu der offenen Forderung nach baldiger Rückgliederung ins Deutsche Reich. Die Reichsregierung hält sich trotzdem zunächst weiterhin zurück.
Die Memeler Landtagswahl 1938
Am 20. November 1938 läßt die litauische Regierung die deutsche wissen, daß sie bereit sei, mit Deutschland über alle offenen Fragen zu verhandeln. Am 1. Dezember erklärt sie auch die Bereitschaft, dem Memelgebiet die volle Autonomie zu geben. Reichsaußenminister von Ribbentrop erwägt die Einladung seines litauischen Kollegen und läßt zwei Verträge ausarbeiten. Entwurf eins sieht die Rückkehr des Memellands zu Deutschland vor und als Gegenleistung einen litauischen Freihafen und Wirtschaftsprivilegien in Memel. Entwurf zwei verlangt nur die volle Autonomie für das Memelland. Ansonsten informiert der Außenminister sein Haus, daß eine gewaltsame Rückeroberung des Memelgebietes nicht in der Absicht Hitlers liegt.
Am 11. Dezember 1938 wird erneut gewählt.. Die deutsche Liste bekommt 87% der abge-gebenen Stimmen. Das Ergebnis wirkt wie ein Votum der Bevölkerung für den Anschluß an das Deutsche Reich.
Die Reaktionen aus Berlin und Kaunas auf die Landtagswahlen sind so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Der “Stellvertreter des Führers” Rudolf Heß erläßt am 2. Februar 1939 eine streng geheime Weisung an die deutschen Dienststellen im Memelgebiet und im Deutschen Reich, “daß jedes Hinarbeiten deutscher Parteistellen nach dem Memelgebiet zu unterbleiben habe, daß vor der Hand jeder Konflikt mit der litauischen Regierung zu vermeiden sei und daß die memeldeutsche Führung für die Durchführung dieser Weisung verantwortlich gemacht werde”.
Als am 15. März 1939 der im Dezember1938 neu gewählte Landtag noch immer nicht vom litauischen Gouverneur zu seiner ersten Sitzung einberufen worden ist, hält der Vertreter der deutschen Parteienliste Dr. Ernst Neumann eine öffentliche Rede. Er beklagt die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Memelländer. Er prangert den wirtschaftlichen Niedergang des Gebiets unter litauischer Herrschaft an, und er verlangt vom Gouverneur, den Landtag bis zum 25. März zu seiner ersten Sitzung einzuberufen. Und Dr. Neumann gibt Vertretern der Agentur Reuter und des DAILY TELEGRAPH ein Interview, in dem er erstmals öffentlich erklärt, die deutsche Bevölkerung des Memellands erwarte den Anschluß an das Deutsche Reich und hoffe, die litauische Regierung werde das Gebiet freigeben. Er fügt hinzu, daß die Memelländer keine Feindschaft gegen die litauische Bevölkerung empfinden würden, auch nicht gegen die litauischen Soldaten. – Damit ist die Katze aus dem Sack.
Der Deutsch-Litauische Staatsvertrag 1939
Nun will sich die litauische Regierung ihren Anspruch auf das Memelland von England und Frankreich garantieren lassen, doch die Regierungen in Paris und London winken ab. Am 20. März, nachdem Litauen in Paris und London keinen Rückhalt findet, reist Außenminister Urbšys nach Berlin zu Ribbentrop. Der deutsche Minister nutzt nun die ausweglose Lage des litauischen Kollegen. Er weiß, daß Litauen das Memelland einst ohne Recht und mit Gewalt genommen hat, daß es die Memelkonvention die längste Zeit nicht eingehalten hat, daß die Memelländer sich mit übergroßer Mehrheit für das Deutsche Reich entschieden haben und daß Litauen nun bei den Siegermächten keinen Rückhalt findet. Von Ribbentrop stellt Urbšys vor die Wahl.
„Es gibt zwei Möglichkeiten”, so von Ribbentrop, “eine freundschaftliche Regelung mit nachfolgendem freundschaftlichem Verhältnis zwischen den beiden Ländern. Hierbei würden wir wirtschaftlich großzügig sein und die Freihafenfrage zu Gunsten Litauens lösen. Anderenfalls ist nicht zu sehen, wo die Entwicklung endet. Kommt es im Memelgebiet zu Aufständen und Schießereien, wird Deutschland nicht ruhig zusehen. Der Führer wird blitzartig handeln und die Situation wird dann von den Militärs bestimmt.”
Von Ribbentrop beendet das Gespräch mit dem Angebot eines Vertrages, der beides regeln soll, die Rückkehr Memels und den Freihafen für Litauen. Am Folgetag berät das litauische Kabinett das deutsche Angebot und beschließt, das Memelland zurückzugeben. Am Tag danach, dem 22.März, schließen beide Länder den von Deutschland angebotenen Vertrag, der das Memelland zurück ins Reich bringt und Litauen einen Freihafen in Memel und gewisse Rechte garantiert. Zeitgleich gehen Noten der litauischen Regierung an die in London, Rom, Paris und Tokio, die nach Artikel 15 der Memelkonvention als Signatarmächte dieser Konvention “der Übertragung der Souveränitätsrechte über das Memelgebiet zustimmen” müssen. Die angeschriebenen Mächte bekunden, daß sie nichts gegen die Rückübertragung des Memellands an Deutschland unternehmen werden. So wird das Memelgebiet am 22. März 1939 völkerrechtlich wieder deutsch.
Die Heimkehr des Memellandes 1939
Schon in der Nacht zum 23. beginnt das litauische Militär, vertragsgemäß aus Memel abzurücken. In den frühen Morgenstunden marschieren dafür drei nahe stationierte deutsche Heeresbataillone von Tilsit kommend ein, und ein Dutzend Schiffe der Kriegsmarine legt im Memeler Hafen an. Die ganze Übergabe ist kein kriegerisches Unternehmen.
Der Anschluß des Memellandes entspricht dem Willen der großen Mehrheit der betroffenen Bevölkerung, und er folgt einem völkerrechtlich gültigen Vertrag. Am 15. Mai 1939 erkennt die britische Regierung die Rückkehr des Memellandes in einer Note an, in der sie schreibt:
„Ihrer Majestät Botschaft … hat die Ehre, das (deutsche) Außenministerium … davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihrer Majestät Regierung des Vereinigten Königsreichs entschieden hat, die deutsche Vereinigung mit Memel de jure anzuerkennen. …”
Diese de-jure-Anerkennung ist insofern bemerkenswert, als sie in England und bei den anderen Erste-Weltkrieg-Siegermächten bald danach vergessen ist. Auf der Siegerkonferenz von Potsdam 1945 legen der englische Premier Churchill und US-Präsident Truman gemeinsam fest, was nach ihrer Lesart „Deutschland” ist. Für sie ist es das „Deutschland in den Grenzen von 1937“ ohne Memel. Auch das Internationale Militärtribunal von Nürnberg erklärt die Heimkehr Memels in ihrem Urteil 1946 zu einer von sechs Verletzungen des Versailler Vertrags. Dies Urteil übergeht, daß die Regierungen Englands und Frankreichs der Rückgabe 1939 auf litauisches Befragen nicht widersprochen und den Artikel 99 des Versailler Vertrags damit selber aufgehoben haben. Es übergeht die „de-jure-Anerkennung” der englischen Regierung, mit der die Briten 1939 sagen, daß ihre Anerkennung „von Rechts wegen” geschieht und nicht etwa aufgrund der geschaffenen Fakten oder infolge von Gewalt.